Cundries Kleider: Textilien im „Parzival“ Wolframs von Eschenbach
Elke Brüggen
BCDSS Principal Investigator & Fellow
Am Artushof, dem Zentrum weltlicher Macht, wird gefeiert: Der junge Ritter Parzival, „wie ein Engel aussehend, nur ohne Flügel“ (Eschenbach Parzival [EP] 308,2[DI1] ), nach dem man lange auf der Suche gewesen war, ist wieder da. Ihm zu Ehren richtet man ein großes Fest aus, für das keine Mühen gescheut werden. Da die Hofgesellschaft auf Reisen ist, lässt König Artus aus einem luxuriösen Seidenstoff aus Acraton (EP 309,18), „von weither aus dem Heidenland geholt“ (EP 309,19[DI2] ), einen Kreis machen, so groß, dass alle ehrenwerten Ritter und Damen sich auf einer Blumenwiese um ihn versammeln können, um gemeinsam zu speisen. Das Tuch verweist auf die am Herrschaftszentrum in Nantes verbliebene Rundtafel, mit der man die prinzipielle Gleichrangigkeit aller Mitglieder der Gesellschaft zur Anschauung bringt: „Denn die Ordnung, nach der sie lebten, verbot ihnen, einen Ehrensitz zu beanspruchen: Alle Plätze galten gleich viel.“ (EP 309,23 – 25[DI3] ). Es sind vor allem die adligen Frauen in der Runde, die auf Parzivals Ankunft reagieren: Sie sind von der Schönheit des jungen Mannes geradezu in den Bann geschlagen: „Durch ihre Augen gelangte er in ihr Herz.“ (EP 311,28).[DI4]
Doch in dieses glanzvolle Ambiente dringt ein unerwarteter Gast vor, ein weibliches Wesen, das „nicht aussah wie eine hochstehende Dame“, so der Erzähler (EP 312,15). [DI5] Von ihr geht eine schlimme Wirkung aus: Sie schlägt die allgemeine Hochstimmung nieder (313,6), als sie ein vernichtendes Urteil über den von allen bestaunten und bewunderten Parzival fällt. Sie wirft ihm Mitleidlosigkeit, Untreue und Verrat vor, die einem abscheulich-abstoßenden Inneren entsprängen. Seine überwältigende Schönheit – nichts anderes als trügerisches Blendwerk, von dem die ehrenwerte Gesellschaft des Artushofs sich habe täuschen lassen. Parzival sei in Wahrheit ein Unwürdiger, der kein Recht habe, diesem elitären Zirkel anzugehören.
Cundrie heißt diese Frau (312,26f.), und mit dem, was sie zu sagen hat, verkehrt sich im „Parzival“ Wolframs von Eschenbach, einem mittelhochdeutschen Roman vom Anfang des 13. Jahrhunderts, die freudvoll-gelöste Stimmung am Hofe mit einem Schlag in Schmerz und Trauer. Cundrie geht das Schicksal des leidenden Gralskönigs Anfortas, dem Parzival kurz zuvor begegnet war, so sehr zu Herzen, dass sie den jungen Ritter öffentlich anklagt, ihn nicht erlöst zu haben; hätte dafür doch eine von Mitleid gespeiste Frage nach Art und Ursache der deutlich sichtbaren körperlichen Pein des mächtigen Herrschers ausgereicht.
Während Cundrie in ihrer Anklage jegliche sprachliche Zurückhaltung fahren lässt und dadurch gegen eingespielte Umgangsformen verstößt, entspricht sie mit dem Kleiderluxus, den sie an den Tag legt, sehr wohl den Gepflogenheiten der höfischen Welt: „Genter Brauttuch, blauer als Lasurstein, hatte sie angelegt, sie, die wie Hagel niederging auf das Glück, einen Umhang, schön geschnitten, ganz im französischen Stil. Darunter trug sie feine Seide. Ein Pfauenhut aus London, mit Seide gefüttert – der Hut war neu, die dazugehörige Schnur nicht alt –, hing ihr auf dem Rücken.“ (EP 313,4–13).[DI6]
Abb. 1: Kloster Wienhausen, Stifterfigur der Pfalzgräfin Agnes von Landsberg, um 1270 (Foto: U. Loeper/Kloster Wienhausen, 2016).
Bei dem roten Mantel der Stifterfigur handelt es sich nicht, wie bei der Cundrie-Figur im Text des Parzivals, um einen Reisemantel, der die darunter getragene Kleidung vor Staub und Schmutz schützen soll, sondern um ein besonders repräsentatives Element adliger Gewandung. Die Form des hier zu sehenden Kleidungsstücks ist aber durchaus vergleichbar – gezeigt wird ein halbkreisförmig geschnittener Umhang. Bei der Skulptur wird der Mantel mithilfe eines an den vorderen Kanten angebrachten breiten und kräftigen Bandes auf den Schultern gehalten. Der Griff in das Mantelband und das gleichzeitige Hochnehmen der rechten Mantelseite mit der linken Hand galten als vornehme Gesten, die einen gekonnten Umgang mit höfischer Kleidung bezeugen.
Cundries Gewänder sind aus feinsten Stoffen gefertigt, der umhangartige Reisemantel besteht aus sogenanntem Genter Brauttuch oder Hochzeitstuch, einem Wollstoff, für dessen exquisite Qualität der genannte Herkunftsort einsteht. War die flämische Stadt Gent im Mittelalter doch ein berühmtes Zentrum der Tuchproduktion, das sich mit der Expansion der Textilindustrie in Flandern seit dem Ende des 11. Jahrhunderts etabliert hatte (Abb. 2 + 3).
Abb. 2: Mittelalterliche Häuserzeile in Gent (Foto: Shutterstock_49849609, Lizenz 2024).
Abb. 3: Glockenturm und Lakenhalle (Tuchhalle) in Gent (Foto: Shutterstock, 2323212139, Lizenz 2024).
Kaufleute übernahmen die Versorgung mit Rohmaterial und sorgten überdies für den Absatz der fertigen Produkte, der u.a. auf den Messen der Champagne erfolgte, in den Handelsstädten Provins, Troyes, Lagny-sur-Marne und Bar-sur-Aube.
Unter ihrem Mantel trägt Cundrie ein Kleid aus Seide, und aus Seide ist ebenfalls das Futter ihres brandneuen bortengeschmückten Hutes, der aus London importiert wurde. Der Erzähler verwendet für die Seiden hier die Termini „pfelle“ (EP 313,9) und „blîalt“ (EP 309,11) und unterscheidet so zwischen unterschiedlichen Seidenstoffen, wobei die Bezeichnung „blîalt“ vermutlich eine mit Goldfäden durchwirkte Seide bezeichnet. Derartige Stoffe waren kostbare Objekte eines Fernhandels mit orientalischen Luxuswaren, in dem italienische Händler, insbesondere solche aus den Städten Venedig, Genua und Pisa eine bedeutende Rolle spielten, da ihnen bereits im 11. und 12. Jahrhundert eine weitgehende Handels-, Steuer- und Zollfreiheit im byzantinischen Reich gewährt worden war. In Konstantinopel, Antiochia und Jerusalem wurden erste italienische Niederlassungen schon im 11. Jahrhundert errichtet. In den folgenden beiden Jahrhunderten konnte dann ein weitreichendes Netz von Handelsstützpunkten entlang der Küsten des Mittelmeers entstehen. Im 13. Jahrhundert gelang es zudem, zahlreiche Handelsstützpunkte im Landesinneren aufzubauen, so in Afrika, Asien und auf dem Gebiet des heutigen Südrusslands.
Abb. 4: Seidengewebe mit der Darstellung einer Löwenjagd auf blauem Grund, Byzanz oder Syrien, 1. Hälfte des 9. Jahrhunderts, Kirche St. Ursula, Köln (Foto: © Historisches Archiv der Stadt Köln im Rheinischen Bildarchiv, rba c003819).
Ihre modische Expertise stellt Cundrie überdies mit weiteren Details unter Beweis. So folgt die Form ihres Mantels einem französischen Schnitt und weist damit ein für die adlige Kleiderkultur der Zeit ganz wesentliches Merkmal auf: die Orientierung an Vorbildern der raffinierten und tonangebenden Mode aus Frankreich. Der Wollstoff ihres Mantels zeigt ein Blau, das in seiner Intensität das Blau des wertvollen und hochgeschätzten Lasursteins, auch Lapislazuli genannt, übertrifft. Damit entspricht er einer zeitgenössisch gut bezeugten Vorliebe für Stoffe von einer satten, leuchtenden Farbigkeit. Außerdem weist ihr Hut mit dem kostbaren Seidenfutter auf seiner Außenseite einen Schmuck aus Pfauenfedern auf. Damit sind die kobaltblau, violett, bronzefarben und goldgrün schillernden Schwanzfedern der männlichen Tiere gemeint, die in einem sogenannten Auge oder Spiegel enden; sie wurden speziell für die Verzierung von Kopfbedeckungen verwendet (Abb. 5).
Die modebewusste Cundrie ist eine gebildete, ja eine gelehrte Frau, die nicht nur mehrere Sprachen spricht ‒ Latein, Arabisch und Französisch ‒, sondern überdies in Dialektik, Geometrie und Astronomie bewandert ist. Sie wurde demnach offenbar in den septem artes liberales, den sieben freien Künsten, unterwiesen (Abb. 6).
Abb. 5: Pfauenhüte sind als Accessoire der Frauen- wie der Männermode bezeugt. Auf dieser Miniatur aus der „Großen Heidelberger Liederhandschrift“, auch „Codex Manesse“ genannt, ist der Minnesänger Ulrich von Gutenburg mit einem Pfauenhut dargestellt. Große Heidelberger Liederhandschrift [Codex Manesse] – Zürich, ca. 1300 bis ca. 1340 (Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, fol. 73r.
Abb. 6: Die Philosophie inmitten der Sieben Freien Künste: Herrad von Landsberg, Hortus deliciarum, um 1180 (Composé de 12 feuillets, l’album porte le titre „Herrad von Landsberg, Aebtissin zu Hohenburg, oder St. Odilien, im Elsass, im zwölften Jahrhundert und ihr Werk: Hortus deliciarum. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaften, Literatur, Kunst, Kleidung, Waffen und Sitten des Mittelalters“; DOI: https://www.bacm.creditmutuel.fr/fr/hortus.html). Die weiblichen Figuren, welche die septem artes liberales repräsentieren, sind nach der neuesten Mode gekleidet. Sie tragen Kleider mit enganliegenden, die Körperformen betonenden Oberteilen und weitschwingenden Röcken und Hängeärmeln als besonderem Schmuck.
Sobald Cundries Körper jedoch ins Spiel kommt, tut sich eine grelle Dissonanz zu ihrer kultivierten Erscheinung auf. Denn sie entspricht in keiner Weise dem gängigen Schönheitsideal: Die zu einem langen Zopf geflochtenen Haare sind schwarz und hart „wie die Rückenborsten eines Schweins“ (EP 313,20), [DI7] die Brauen sind lang und hoch aufragend, die Nase ähnelt der eines Hundes, die Zähne den Hauern eines Ebers. Und weiter: Ohren wie ein Bär, das ganze Gesicht dicht behaart, die Hände mit einer Haut nach Art der Affen überzogen, die Finger mit schwarzen Nägeln, geformt wie Löwenklauen. Die Tiervergleiche des Erzählers stempeln Cundrie zu einem Ausbund an Hässlichkeit. Erst viel später im Text werden die Abnormitäten als angeborene Missbildungen enthüllt, die bei Cundrie ebenso auftreten wie bei ihrem Bruder mit dem bezeichnenden Namen Malcreatiure. Für ihre Erklärung greift der Autor auf einen verbreiteten Mythos zurück: Die Geschwister kommen aus dem Reich der Königin Secundille, dem Land Tribalibot am Ganges, im heutigen Indien gelegen. Sie sind Abkömmlinge der Töchter Adams, die das väterliche Verbot ignorierten, während der Schwangerschaft von bestimmten Kräutern und Pflanzen zu essen – durch die falsche Ernährung brachten sie missgestaltete Kinder zur Welt (EP 517,28 – 519,1). Diese wunderlichen Geschwister wurden von Secundille einst, so ist zu erfahren, als „kleinoete“ (EP 519,21), als Kleinodien oder besondere Kostbarkeiten, als menschliche Geschenke an König Anfortas geschickt, den großen Herrscher über den Gral. Cundrie verblieb in seiner Nähe, doch Malcreatiure wurde ein weiteres Mal verschenkt: Der Gralkönig bestimmte ihn als Gabe für seine Geliebte, die Herzogin Orgeluse von Logroys.
Abb. 7: Knotenpunkte des Textilhandels im Hochmittelalter (Karte: BCDH 2024, hergestellt mithilfe von Natural Earth. Kostenlose Vektor- und Rasterkartendaten @ naturalearthdata.com).
[DI1]Sound 1: „wie ein Engel aussehend, nur ohne Flügel“ (Eschenbach Parzival [EP] 308,2[DI1] )
[DI2]Sound 2: „von weither aus dem Heidenland geholt“ (EP 309,19[DI2] )
[DI3]Sound 3: „Denn die Ordnung, nach der sie lebten, verbot ihnen, einen Ehrensitz zu beanspruchen: Alle Plätze galten gleich viel.“ (EP 309,23 – 25)
[DI4]Sound 4: „Durch ihre Augen gelangte er in ihr Herz.“ (EP 311,28)
[DI5]Sound 5: „nicht aussah wie eine hochstehende Dame“ (EP 312,15)
[DI6]Sound 6: „Genter Brauttuch, blauer als Lasurstein, hatte sie angelegt, sie, die wie Hagel niederging auf das Glück, einen Umhang, schön geschnitten, ganz im französischen Stil. Darunter trug sie feine Seide. Ein Pfauenhut aus London, mit Seide gefüttert – der Hut war neu, die dazugehörige Schnur nicht alt –, hing ihr auf dem Rücken.“ (EP 313,4–13)
[DI7]Sound 7: „wie die Rückenborsten eines Schweins“ (EP 313,20)
Weiterführende Literatur
Brüggen, Elke, 1989. Kleidung und Mode in der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1989 (Beihefte zum Euphorion 23).
Eschenbach, Wolfram von, 1994. Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn, Bd. 1–2, Frankfurt am Main 1994 (Bibliothek des Mittelalters 8/1 und 8/2) (Bibliothek deutscher Klassiker 110).
Eschenbach, Wolfram von, 2004. Parzival. Translated by Cyril Edwards. With Titurel and the Love-Lyrics and with an essay on the Munich Parzival illustrations by Julia Walworth (Arthurian Studies), Woodbridge/Suffolk 2004.
Keupp, Jan, 2010. Die Wahl des Gewandes. Mode, Macht und Möglichkeitssinn in Gesellschaft und Politik des Mittelalters, Ostfildern 2010 (Mittelalter-Forschungen 33).
Krass, Andreas, 2006. Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel, Tübingen, Basel 2006 (Bibliotheca Germanica 50).
Theiß, Alissa, 2020. Höfische Textilien des Hochmittelalters. Der ‚Parzival‘ des Wolfram von Eschenbach, Stuttgart 2020 (Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur Beiheft 30).