
Andine Grabmarker: Embleme asymmetrischer Abhängigkeit
Beatrix Hoffmann-Ihde
BCDSS Exhibition Curator
Die vorchristliche Kosmologie der indigenen Andenbevölkerung beruht auf einem komplexen System reziproker, das heißt wechselseitiger Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Menschen und ihrer Umwelt. Diese Beziehungen sind jedoch unter dem Aspekt der Macht meist nicht ausgeglichen. Insbesondere zwischen lebenden Menschen und ihren Ahnen sind sie von starker Asymmetrie gekennzeichnet. Dies zeigt sich heute noch in archäologischen Zeugnissen, wie bemalten Grabtafeln aus Stoff.
Reziproke Abhängigkeiten
In der andinen Kosmologie ist das Wohlergehen der irdischen Menschen wesentlich von der Fürsorge ihrer Ahnen abhängig. Diese gewähren die Fürsorge jedoch nur, wenn sie selbst ausreichend Verehrung und Opfergaben erhalten, wobei sich für die Menschen das Genug nur im Rückblick erkennen lässt. Das versetzt sie gegenüber den Ahnen in einen Zustand immerwährender Sorgeverpflichtung. Heute sind diese Vorstellungen mit christlichen Ideen verwoben, doch die Wurzeln des reziproken Denkens liegen in vorkolonialer Zeit und lassen sich über schriftliche Quellen aus der Kolonialzeit und archäologische Befunde rekonstruieren und belegen.
In der wohl wichtigsten indigenen Quelle über die Geschichte, den Alltag und die Kosmologie der andinen Bevölkerung in vorkolonialer, also inkaischer Zeit, dem auto-ethnografischen Werk von Felipe Guamán Poma de Ayala (1534-1615) wird die Fürsorge für die Inka-Ahnen ausführlich beschrieben. Sie waren für das Wohlergehen des gesamten Herrschaftsgebiets der Inka, tawantinsuyu genannt, verantwortlich und galten als mächtige Mitglieder der Gesellschaft. Weil sie als königliche Ahnen so bedeutsam für das Inkareich und seine Menschen waren, hatte man sie mumifiziert und bewahrte sie im wichtigsten Tempel der Hauptstadt Cuzco, im Coricancha, auf. Dort residierten die Mumien wie zu Lebzeiten in eigenen Gemächern und wurden wie lebende Herrscher:innen versorgt. So gab es Diener:innen, die für tägliche Opfergaben oder die Pflege der Kleidungsstücke Sorge trugen. Bei großen Festlichkeiten, besonders im November, dem Monat des Totengedenkens, fanden in Cuzco große Prozessionen statt, auf denen auch die Inka-Ahnen auf Sänften durch die Straßen der Stadt getragen und dann auf dem Hauptplatz präsentiert wurden (Abb. 1).

Abb. 1: Der elfte Monat, November; Aya Marq’ay Killa, Monat des Totengedenkens, Royal Danish Library, GKS 2232 kvart: Guaman Poma, Nueva corónica y buen gobierno (c. 1615), Seite [256 [258]].
Grabtafeln
Jedoch wurden nicht in allen Teilen des Inkareichs die Ahnen in eigenen Häusern oder Räumlichkeiten aufbewahrt. An der Küste zum Beispiel wurden sie bestattet. Die Verstorbenen wurden mithilfe von Stoffbahnen, Netzen und Pflanzenteilen (hauptsächlich Blättern) zu einem Bündel (fardo) geschnürt. Damit das Bündel wie ein Mensch aussah und an den:die Ahn:in erinnerte, bestand die äußerste Textilschicht aus einem Kleidungsstück, uncu genannt. Und auf das Bündel wurde ein Kopf gesetzt, der aus Stoff gefertigt war (Abb. 2). Auf diese Weise hergerichtet, wurde das Mumienbündel zusammen mit Beigaben im trockenen Wüstensand bestattet. Zu den Beigaben zählten Keramikgefäße, Metallgegenstände, verschiedene Nahrungsmittel, etwa Mais oder Früchte, und zuweilen auch Utensilien zur Textilherstellung, sogenannte Nähkörbchen (Abb. 3).
Aber auch diese Ahnen mussten versorgt werden, damit sie wiederum für das Wohlergehen der Lebenden, meist ihre direkten Nachfahren und deren Familien, gut sorgten. Um die Gräber zu markieren und auf die Ahnen hinzuweisen, wurden auf den großen Friedhöfen in der weiteren Umgebung der heutigen Stadt Lima, also an der peruanischen Zentralküste, bemalte Grabtafeln verwendet. Auf einen Rahmen aus Schilf wurden runde oder rechteckige Stoffstücke gespannt, die mit roter und schwarzer Farbe meist figürlich bemalt waren (Abb. 4-6).

Abb. 2: Mumie mit unku (W. Reiß & A. Stübel, Das Todtenfeld von Ancon in Perú, 1880, Bd. 1, Tafel 16).

Abb. 3: Spindeln und Arbeitskörbchen (W. Reiß & A. Stübel, Das Todtenfeld von Ancon in Perú, 1880, Bd. 3, Tafel 86).


Abb. 4: Bemalte Grabtafeln (W. Reiß & A. Stübel, Das Todtenfeld von Ancon in Perú, 1880, Bd. 1, Tafel 33).
Abb. 5: Bemalte Grabtafel (W. Reiß & A. Stübel, Das Todtenfeld von Ancon in Perú, 1880, Bd. 1, Tafel 33, Detail).

Abb. 6: Mumie mit Beigaben und bemalten Grabtafeln (Reiß, W., Stübel, A., Das Todtenfeld von Ancon in Perú, 1880, Bd. 1, Tafel 15).
Weiterführende Literatur
Guamán Poma de Ayala, Felipe, 1615] 2015. Nueva crónica y buen gobierno. Lima: bnp Biblioteca Nacional del Perú.
Hoffmann, Beatrix, 2005. Bemalte Grabtafeln von der zentralperuanischen Küste im Ethnologischen Museum Berlin. In: Baessler Archiv N.S.,53: 55-73.
Reiss, Wilhelm und Alphons Stübel, 1880-1887. Das Todtenfeld von Ancón in Perú. Bde. 1-3. Berlin: Verlag von A. Asher & Co.