Abhängigkeit vom Lama: Seidenschutz und Ehrung buddhistischer Meister in Kunst und Text
Lewis Doney
BCDSS Investigator & Professorial Member
Um Erleuchtung zu erreichen, muss man jemandem voll und ganz vertrauen, der zuvor dorthin gegangen ist. Um diese Abhängigkeit vom Guru oder Lama künstlerisch darzustellen, verfügen Tibeter*innen über langjährige Praktiken und vielfältige literarische und künstlerische Ausdrucksformen zu Ehren der religiösen Meister. Schaut man sich die damit verbundene Verwendung von Textilien, insbesondere von Baumwolle und Seide, genauer an, erkennt man komplexe Beziehungen sowohl von expliziter als auch impliziter Abhängigkeit und die Befreiung davon, die sich in diesen Kontexten vollziehen.
Buddha lehrte den Weg, aus dem endlosen Rad der Wiedergeburt zu erwachen. Daher haben der Buddhismus und seine Anhänger*innen die Lehrer dieser Tradition immer geschätzt und verehrt. In Tibet besteht eine langjährige Praxis, die völlige Abhängigkeit vom Guru, oder auch Lama, auf künstlerisch-literarische Art auszudrücken. Um Erleuchtung zu erlangen, ist es notwendig, voll und ganz demjenigen vertrauen, der zuvor diesen Pfad gegangen ist. Dies hat zu einer reichen Vielfalt einzigartiger tibetischer Literatur und künstlerischer Ausdruckformen geführt, den jeweiligen Meister in Form von Porträts, Gebeten, Ritualen und Nacherzählungen ihrer vollkommenen Befreiung als den Führer zum Erwecken seiner Schüler*innen zu ehren. So wie die Opfergabe von Seidenschals die Lehrer ehrte (Abb. 1), erreichte man auch den Schutz dieser wertvollen Kunst und des Textes, indem man sie mit der teuersten Baumwolle und Seide bedeckte, die man sich leisten konnte.
Abb. 1: Detail eines traditionellen tibetischen Gemäldes: undurchsichtiges Aquarell auf Baumwolle (tang-Ka), den ersten Penchen Lama, Khedrup Je (1385–1438), darstellend. Tibetische Sammlung der Universität Bonn (Foto: B. Frommann, 2024).
Tibet ist ein äußerst bibliophiles Land und die spirituellen Biografien (nam-tar) seiner religiösen Meister machen einen großen Teil dieses Textreichtums aus. Die Lebensgeschichte des Asketen Milarépa (1028/40‒1111/23 n. Chr., Abb. 2), der dafür berühmt war, nur ein einziges einfaches Baumwolltuch (ré) zu tragen, während er in den Bergen Tibets meditierte, wurde auch aufgrund der populären Biografie des „verrückten“ Tsang-nyön Heruka (1452‒1507), welche Teil dieses Manuskripts (pé-cha, Abb. 3) ist, in den 1960er-Jahren im Westen bekannt. Die Erzählung berichtet davon, wie Milarépa als Kind in die Abhängigkeit von seinem Onkel und seiner Tante gezwungen wurde und sich rächte, indem er viele ihrer Verwandten mit schwarzen Magie tötete. Geplagt vom schlechten Karma, das er geschaffen hatte, flüchtete er sich zu einem buddhistischen Meister, der ihn schwere, unbezahlte Arbeit verrichten ließ, um das schlechte Karma zu verbrennen. Schließlich machte er Milarépa zu seinem engsten Schüler.
Abb. 2: Tang-ka-Gemälde von Milarépa (1040‒1123). Tibet oder Nepal, 19. Jahrhundert. Mineralische Pigmente und Gold auf Baumwollstoff; Seidenränder. Geschenk von Herrn und Frau Michael Phillips an LACMA/Los Angeles (Inv. M.82.165.2), https://collections.lacma.org/node/243998 (Foto: LACMA, o. J.).
Abb. 3: Tibetisches Buch im Format einer losen Blattsammlung (pé-cha), mit Seideneinband über Folio 1. Auf der Rückseite ein Gebet an den buddhistischen Meister Milarépa (Foto: B. Frommann, 2024).
Diese an Aschenputtel erinnernde Erzählung wurde in Blockdrucken und luxuriösen handgeschriebenen Manuskripten wie diesem weit verbreitet, geschrieben in goldener und blauer Schrift auf schwarzem Hintergrund (ting-shog) und von edlen Porträts begleitet (Abb. 4). Dies ist ein materieller Ausdruck der Hingabe des Milarépa an den Lama, die textlich in der Biografie und in dem vorangehenden Lobgebet an ihn festgehalten ist. Zum Schutz dieser besonderen Seite wurde ein Seideneinband auf das Folio genäht (Abb. 5), was für tibetische Manuskripte selten ist. Gemäß tibetischer Tradition ist das gesamte Manuskript im Buchformat mit losen Blättern (pé-cha) in Baumwolle eingewickelt, die auch außerhalb Tibets hergestellt wurde. Es enthält an einem Ende ein seidenes „Lesezeichen“, worauf der Name des Textes vermerkt ist (Abb. 6).
Abb. 4: Oberseite von Folio 2 mit der spirituellen Biographie (nam-tar) von Milarépa und Folio 1 rückseitig mit Seideneinband (Foto: B. Frommann, 2024).
Abb. 5: Aufgedeckte Rückseite von Folio 1 mit sichtbarem Seidenschutz. Auf der Oberseite von Folio 2 sind die Darstellungen zweier Gottheiten und eines buddhistischen Meisters sowie luxuriöse gold-blaue Schrift auf schwarzem Untergrund (ting-shog) zu sehen (Foto: B. Frommann, 2024).
Abb. 6: Tibetisches Buch, mit traditioneller Schutzhülle (Foto: B. Frommann, 2024).
Bei tibetischen traditionellen Roll-Gemälden (tang-ka) zeigen die hauchdünnen Vorhänge aus Seide (shal-kheb), die das Bild bedecken (Abb. 7), sowie die reiche und farbenfrohe Seidenbrokatumrandung (Bild 9) die starke Art der Verehrung, die der Darstellung von Lamas zuteil wird. Einmal freigelegt, offenbart sich eine Malerei mit einer lebendigen Szene, in welcher der erste Penchen Lama Khedrub Je (1385‒1438, Hauptfigur) seinem Lama Tsongkhapa (1357‒1419, oben links) bei einem rituellen Flehgesang ein Mandala auf seinem Seidenschal (kha-tag) darbringt (Abb. 8).
Abb. 7: Traditionelles tibetisches Rollgemälde (tang-ka), mit seidener Schutzhülle (Foto: B. Frommann, 2024).
Abb. 8: Tang-ka des ersten Penchen Lama mit aufgerollter Schutzseide. Zu sehen ist, wie der Penchen Lama seinem Meister Tsongkhapa (ca. 1357–1419), dem Gründer der Schule der Dalai Lamas, Opfergaben auf einem Seidenschal (kha-tag) darbringt (Foto: B. Frommann, 2024).
Abb. 9: Detail des tang-ka des ersten Penchen Lama mit dem Seidenrand, der das Gemälde umgibt. Darauf tibetische Inschrift zur Bezeichnung der Hauptfiguren, wie sie in jeder Blockdruckkopie (par-ma) der ursprünglichen tang-ka-Blöcke zu finden ist (Foto: B. Frommann, 2024).
Tsongkhapa begründete die Gelug-Tradition der Dalai Lamas, die Penchen Lamas fungierten oft als ihre Lehrer. Ihnen wurde im frühen modernen Tibet die größte Ehre zuteil. Wie die Dalai Lamas bilden die Penchen Lamas eine Linie aufeinanderfolgender Reinkarnationen, die aus buddhistischen Gottheiten hervorgegangen sind, um jeder Generation den Weg zum Erwachen zu lehren. Die von Khedrub Je im Abhängigkeitsverhältnis zu seinem Meister dargebotene Seide spiegelt sich in der Seide wider, die das Gemälde umgibt und schützt, was die Abhängigkeit späterer Generationen von Khedrub Je als erster Reinkarnation zum Ausdruck bringt und ihnen den Weg zeigt, künftigen Wiedergeburten zu entgehen.
In der Logik des tibetischen Buddhismus sollte die Abhängigkeit von den Lamas, also vom Anhänger zum Meister, stark sein, aber nicht asymmetrisch, da der Lama im Gegenzug Lehren zur Befreiung verbreitet. Er tue sogar unvorstellbar mehr für seine Schüler*innen als Emanation einer Gottheit, die aus Mitgefühl für alle Lebewesen wirkt. Religiöse Meister, auch solche, die wie Milarépa bescheiden anfingen, entwickelten sich zu verehrten Eliten der tibetischen Gesellschaft. Berühmten Lamas wurden von reichen und armen Schülern Opfergaben dargereicht. Im Gegensatz dazu blieben die Handwerker, die Papier für Manuskripte herstellten, Baumwolle oder Seide zum Schutz von Einbänden webten und sogar diejenigen, die die Bilder selbst malten (Abb. 10), oft anonym und in Abhängigkeit von den religiösen Eliten in Form von Patronen oder Grundbesitzern.
Abb. 10: Tang-ka Maler am Potala Palast des Dalai Lama, 1938–1939, Bundesarchiv, Bild 135-KA-07-095 (Foto: Ernst Krause, n. d.).
Darüber hinaus zeigt sich eine asymmetrische Machtdynamik von oben nach unten in der Tatsache, dass sowohl die spirituelle Biografie von Mila-répa als auch die Porträts der Penchen Lamas (zu denen dieses Beispiel gehört) mithilfe der Blockdrucktechnologie verbreitet wurden, um den Markt zu überschwemmen und somit sicherzustellen, dass bestimmte Ansichten dieser religiösen Meister statt anderer Gegendarstellungen anerkannt wurden. Diese mittels Blockdruck angefertigte Malerei trägt sogar eine Inschrift an der Unterseite (Abb. 9), welche die Figuren identifiziert und vorgibt, wie Betrachter*innen die Szene interpretieren und eine hingebungsvolle Haltung gegenüber den darin dargestellten Mitgliedern der herrschenden Gelug-Religionstradition einnehmen sollten.
Hinter diesen buddhistischen Kunst- und Texttraditionen Tibets, wie auch anderer Orte und Religionen, offenbart eine eingehendere Untersuchung der damit verbundenen Textilien, dass komplexe Beziehungen sowohl expliziter als auch impliziter Abhängigkeit und der Befreiung davon stattfinden.
Weiterführende Literatur
Berger, Patricia, 2008. “Reincarnation in an Age of Mechanical Reproduction: The Career of the Narthang Panchen Lama Portraits.” In Images of Tibet in the 19th and 20th Centuries, edited by Monica Esposito, vol. 2, 727–45. Études thématiques 22. Paris: École française d’Extrême-Orient.
Doney, Lewis, 2024. “Creating Dependency by Means of its Overcoming: A Case Study from the Rise of Tibetan Buddhism.” In Control, Coercion, and Constraint. The Role of Religion in Overcoming and Creating Structures of Dependency, edited by Wolfram Kinzig and Barbara Loose, 89–108. Berlin: De Gruyter.
Evans-Wentz, Walter Y., 1978. Milarepa, Tibets Grosser Yogi. München: Barth.
Kapstein, Matthew T. (ed.), 2024. Tibetan Manuscripts and Early Printed Books. 2 vols. Ithaca: Cornell University Press.
Quintman, Andrew, 2014. The Yogin and the Madman: Reading the Biographical Corpus of Tibet’s Great Saint Milarepa. South Asia Across the Disciplines. New York: Columbia University Press.
Schwieger, Peter, 2000. “Geschichte als Mythos: zur Aneignung von Vergangenheit in der tibetischen Kultur. Ein kulturwissenschaftlicher Essay.” Asiatische Studien: Zeitschrift der Schweizerischen Asiengesellschaft 54 (4): 945–73.
Tsangnyön Heruka, 2010. The Life of Milarepa. Translated by Andrew Quintman. New York: Penguin Classics.