Ariadnes Fäden: Fasern und ihre Rohstoffe
Beatrix Hoffmann-Ihde
BCDSS Exhibition Curator
Heutige Redewendungen und mythologische Traditionen, wie etwa „der Faden des Lebens“ oder den „roten Faden (nicht) verlieren“, lassen die große Bedeutung von Fäden, auch Garn genannt, im einstigen Alltag der Menschen erkennen. Sie sind das Ausgangsmaterial zur Herstellung von Textilien. Über Jahrhunderte wurden in dörflichen Spinnstuben Fäden gesponnen, welche entweder verkauft oder am heimischen Webstuhl weiterverarbeitet wurden. Aber woraus bestehen Fäden, und wie werden sie hergestellt? Wie sind sie mit asymmetrischer Abhängigkeit verwoben?
Die überwiegende Mehrheit von Textilien wird aus Fäden, also aus Garnen und Zwirnen, mittels flächenbildender Techniken hergestellt. Eine Ausnahme bilden die Rindenbaststoffe, deren Fasern bereits durch ihr Wachstum am Baum miteinander verbunden sind. Um ein flächiges Textil zu erhalten, muss der Bast lediglich aus der Rinde geschält und durch verschiedene Arbeitsschritte, wie Befeuchten, Auseinanderziehen und Schlagen, zum gewünschten Textilstück geformt werden.
Fäden bzw. Garne und Zwirne wurden über Jahrtausende zunächst aus pflanzlichen und später auch aus tierischen Fasern gewonnen. Ein Überblick über die verschiedenen Rohstofflieferanten offenbart ihre globale Vielfalt (Abb. 1 – 21). Die Kontrolle des Zugriffs auf diese Rohstoffe und deren Verarbeitung werden bis heute dazu genutzt, um asymmetrische Abhängigkeitsbeziehungen zu etablieren.
Abb. 1: Grünes Bananenblatt (Foto: ian al amin, 2023, Shutterstock-ID: 2293976727, Lizenz 2024).
Abb. 2: Baumwolle (Foto: muratart, 2022, Shutterstock-ID: 2140338465, Lizenz 2024).
Die Fasergewinnung setzt umfassende Kenntnisse der Rohstoffquellen und ihrer Eigenschaften voraus. Die Verarbeitung von Pflanzenstängeln zu Garn, wie zum Beispiel von Flachs oder Brennnesseln, setzt einen aufwendigen Arbeitsprozess voraus. Die Stängel müssen nach der Ernte zunächst getrocknet, geröstet und gebrochen werden. Erst dann lassen sich die Fasern vom Stängel lösen und weiterverarbeiten. Dagegen ist die Aufbereitung der meisten tierischen Fasern – mit Ausnahme von Seide – zur Garngewinnung einfacher: Nach der Schur werden die Haare gereinigt, entfettet und gekämmt. Danach können sie bereits versponnen werden. Nomadisch lebende Menschengruppen waren und sind auf diese nichtstationäre und somit ortsunabhängige Form der Garngewinnung angewiesen. Die Produktion von Seide hingegen ist außerordentlich aufwendig. Sie erfordert nicht nur genaue Kenntnisse des Prozesses und eine kontinuierliche Pflege der Raupen, sondern auch besondere klimatische Bedingungen für diese und für das Gedeihen der Maulbeerbäume, ihrer Nahrung. Daher waren Seidenstoffe über viele Jahrhunderte hinweg ein seltenes und teures Luxusprodukt.
Abb. 3: Flachs (Foto: Updesh Raj, 2021, Free Unsplash-Lizenz 2024).
Abb. 4: Hanfpflanzen (Foto: Robert Lessmann, 2019, Shutterstock-ID: 1296591268, Lizenz 2024).
Abb. 5: Feld mit grüner Jute. (Foto: Artyponds, 2022, Shutterstock-ID: 2182808067, Lizenz 2024).
Die für die Textilproduktion nötigen Garne und Zwirne entstehen schließlich durch das Verspinnen der einzelnen Fasern zu Fäden. Dabei werden die Fasern fortwährend so miteinander verdreht, dass sie einen stabilen Faden ergeben. Es ist ein langwieriger Prozess, bei dem pro Tag und Person nur eine begrenzte Menge an Faden oder Garn entsteht. Es erforderte viel Zeit, um beispielsweise für das Weben eines Gewands eine ausreichende Garnmenge herzustellen. Über Jahrtausende bildeten zunächst Spinnstöcke, dann die Spindel und der Spinnwirtel die wichtigsten Hilfsmittel für das Spinnen. Ihr Gebrauch war vollkommen ortsunabhängig möglich, was sie zu idealen Begleitern des Alltags machte.
Abb. 6: Kapokbaum Bombax Ceiba Pentandra (Foto: Subroto Indonesia, 2023, Shutterstock-ID: 2374097511, Lizenz 2024).
Seit etwa dem 9. Jahrhundert u. Z. nutzten die Menschen in Indien sogenannte charkhas, auf dem Boden liegende Räder. Ihr Gebrauch beschleunigte den Spinnprozess und steigerte die Qualität der Erzeugnisse. Nach Europa gelangten diese charkhas ab dem 13. Jahrhundert und wurden zu Spinnrädern weiterentwickelt, an denen aufrecht sitzend gearbeitet werden konnte. Die kontinuierlich steigende Nachfrage nach Textilien und Stoffen führte im 18. Jahrhundert zu einer weiteren Innovation: der Erfindung einer Spinnmaschine, der Spinning Jenny. Ihr Einsatz gilt heute als Beginn der industriellen Revolution im Globalen Norden. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts sind zu den Fasern aus natürlichen Rohstoffen zahlreiche synthetische Fasern hinzugekommen. Sie werden ausschließlich industriell aus organischen Rohstoffen, wie Holzfasern (Viskose), oder auch aus anorganischen Rohstoffen, wie Wasser, Kohlenstoff und Luft (Nylon), hergestellt. Der zunehmende Einsatz synthetischer Fasern für die Textilproduktion schont zwar die Ressourcen natürlicher Fasern. Die mit der Textilproduktion bis heute vielfach verknüpften asymmetrischen Abhängigkeitsbeziehungen werden dadurch jedoch nicht aufgelöst, wie Fallbeispiele dieser Ausstellung zeigen.
Abb. 7: Kokosnussschalen (Foto: SriLanka, 2019, Free Unsplash-Lizenz 2024).
Abb. 8: Brennnessel (Foto: LesyaD, 2018, Shutterstock-ID: 1157581636, Lizenz 2024).
Abb. 9: Raphia (Foto: Forest and Kim Starr, 2012, Flickr-ID: 120522-6380, Lizenz 2024).
Abb. 10: Sisal (Foto: febry0205, 2019, Shutterstock-ID: 1515727004, Lizenz 2024).
Abb. 11: Alpakas (photo: Wasim Muklashy, 2023, Shutterstock-ID: 2305160643, Lizenz 2024).
Abb. 12: Angorakaninchen (Foto: E. Trankale, 2018, Shutterstock-ID: 1190213284, Lizenz 2024).
Abb. 13: Das Trampeltier (Camelus bactrianus) ist ein großes Huftier mit glatten Zehen, das in den Steppen der Mongolei beheimatet ist. Das Trampeltier hat zwei Höcker auf dem Rücken (Foto: P. Tungittipokai, 2019, Shutterstock-ID: 1565249488, Lizenz 2024).
Abb. 14: Ziege (Foto: Oanaclopotel, 2018, Shutterstock-ID: 1081629410, Lizenz 2024).
Abb. 15: Guanako (Foto: C. Stenger, 2020, Free Unsplash-Lizenz 2024).
Abb. 16: Weißes Lama (Foto: D. Barnes, 2019, Free Unsplash-Lizenz 2024).
Abb. 17: Schafe auf den Feldern in Hvalfjord / Island (Foto: M. Kamenska, 2018, Shutterstock-ID, 1230051940, Lizenz 2024).
Abb. 18: Seidenraupenkokons für die Seidenproduktion (Foto: K. Nagare, 2023, iStock:1501588808, Lizenz 2024).
Abb. 19: Vicuña (Foto: M. Lima, 2024, Free Unsplash-Lizenz 2024).
Abb. 20: Yak (Foto: Purrett Photography, 2020, Shutterstock-ID: 1755255848, Lizenz 2024).
Weiterführende Literatur
Schenek, Anton, 2006. Lexikon Garne und Zwirne: Eigenschaften und Herstellung textiler Fäden. Frankfurt am Main: Deutscher Fachverlag.