Chikankari-Stickerei in Lucknow/Indien – Stickerinnen und ihr Weg aus der Abhängigkeit
Maria Blechmann-Antweiler
BCDSS Independent Collaborator (Researcher)
Inder*innen lieben Kleidung, die mit Stickereien verziert ist. Äußerst beliebt sind daher die berühmten Chikankari-Stickereien, die bekannteste indische Art zu sticken. Sie ist in Lucknow beheimatet, der Hauptstadt des nordindischen Bundesstaats Uttar Pradesh und wird auch Schattenstickerei genannt. Denn die dicht gestickten Motive auf dünnem Stoff lassen nur wenig Licht durchscheinen. Sie wirken dann neben den nicht bestickten Teilen des Stoffes wie SchattenBesonders edle Stoffe sind sogar flächendeckend bearbeitet. Es sind wohl Millionen Stiche, die zum Beispiel einen Sari von sechs Metern Länge und 1,20 Meter Breite vollständig mit Stickereien bedecken. Ursprünglich wurde die Chikankari-Stickerei nur mit weißem Garn auf weißem Stoff ausgeführt (Abb. 1 – 3). Vor allem Frauen besticken solche Stoffe im Auftrag von einzelnen, in der Regel männlichen Händlern. Sie verzieren Saris, Hemden, Blusen, Tischdecken, Kissenbezüge und vieles mehr, heute auch mit farbigen Garnen und auf gefärbten Stoffen.
Abb. 1: Chikankari in Weiß (Foto: M. Blechmann-Antweiler, 2024).
Abb. 2: Chikankari in Weiß (Foto: M. Blechmann-Antweiler, 2024).
Abb. 3: Chikankari durchsichtig, getragen von Viya Sharma (Foto: M. Blechmann-Antweiler, 2014).
Chikankari als kulturelles Erbe
Die Stadt Lucknow zeigt überall, wie stolz sie auf diese über 400 Jahre alte Tradition der Stickerei ist. Schon auf dem Flughafen und in den Hallen der neuen Metrostation Hazratganj in der Innenstadt wird auf großen Plakaten und riesigen Nahaufnahmen für Chikankari geworben (Abb. 4 – 5). Geschäfte mit Chikankari-Kleidung sind allgegenwärtig: kleine einfache und große moderne auf Märkten, in Malls, in kleinen Gassen und belebten Geschäftsstraßen (Abb. 6 – 8). Laut einem offiziellen Bericht von 2020 sind mehr als 2500 Unternehmer mit der Chikankari-Herstellung und dem nationalen und internationalen Verkauf dieser Stoffe beschäftigt. 2008 hat Chikankari den offiziellen Status als traditionelles Stickhandwerk der Stadt Lucknow bekommen.
Abb. 4: Chikankari Metro (Foto: M. Blechmann-Antweiler, 2023).
Abb. 5: Chikankari Metro (Foto: M. Blechmann-Antweiler, 2023).
Abb. 6: Chikankari-Geschäft (Foto: M. Blechmann-Antweiler, 2016).
Abb. 7: Chikankari-Geschäft (Foto: M. Blechmann-Antweiler, 2016).
Abb. 8: Chikankari mit vielen Stichen, Ada (Foto: M. Blechmann-Antweiler, o. J.).
Abhängigkeit der Stickerinnen vom Chikankari-Unternehmer
Ein Chikankari-Unternehmer besitzt meist mehrere Einzelhandelsverkaufsstellen in Lucknow und in anderen Orten Indiens, oft auch an Orten außerhalb Indiens, weltweit. Etliche Arbeitsschritte in der „Chikankari-Industrie“ hat er in der Hand (Abb. 9).
Abb. 9: System in der Chikankari-Industrie (Grafik: M. Blechmann-Antweiler, 2024).
Zunächst beauftragt er Designer, die Motive zu zeichnen, die gerade beliebt sind. Diese Zeichnungen gibt er Holzschnitzern, die nach diesen Motiven Druckblöcke aus festem Holz schnitzen (Abb. 10 – 11).
Abb. 10: Chikankari-Druckblöcke (Foto: M. Blechmann-Antweiler, 2016).
Abb. 11: Chikankari-Druckblöcke (Foto: M. Blechmann-Antweiler, 2016).
Diese Blöcke gibt der Händler weiter an Druckfärber. Diese sieht man überall in kleinen offenen Räumen in der Innenstadt (Abb. 12 – 15).
Abb. 12: Chikankari-Druckblöcke (Foto: M. Blechmann-Antweiler, 2016).
Abb. 13: Chikankari Drucker (Foto: M. Blechmann-Antweiler, 2016).
Abb. 14: Chikankari-Drucker (Foto: M. Blechmann-Antweiler, 2016).
Abb. 15: Chikankari-Drucker (Foto: M. Blechmann-Antweiler, 2016).
Sie drucken mit den in löslicher Farbe getränkten Blöcken die Motive auf Stoffe, die der Patron, wie der Unternehmer auch genannt wird, geliefert hat. Danach gibt dieser die bedruckten Stoffe an die meist in Dörfern im Umland lebenden Stickerinnen weiter. Sie besticken diese Stoffe entlang der Druckvorgaben des Färbers (Abb. 16 – 20).
Abb. 16: Chikankari-Garne (Foto: M. Blechmann-Antweiler, 2023).
Abb. 17: Chikankari-Garne (Foto: M. Blechmann-Antweiler, 2016).
Abb. 18: Chikankari-Stickerin (Foto: M. Blechmann-Antweiler, 2023).
Abb. 19: Chikankari mit vielen Stichen (Foto: M. Blechmann-Antweiler, 2017).
Abb. 20: Chikankari, durchsichtig (Foto: M. Blechmann-Antweiler, 2019).
Die Stoffe werden entweder vor oder nach dem Besticken von Schneidern zu Hemden oder Kleidern genäht. Sobald die Stoffe fertig bestickt sind, bringt der Händler diese zu Wäschern am Fluss Gomti, die die Druckfarbe auswaschen, die Stoffe trocknen lassen und gebügelt zum Abholen falten. Schließlich holt der Händler die Stoffe in sein Geschäft, wo seine Mitarbeiter diese Quadratzentimeter für Quadratzentimeter prüfen und für den Verkauf verpacken (Abb. 21 – 23). Der Unternehmer selbst geht zwar ein Risiko ein, weil er, bevor er Umsatz macht, viel Geld für die Künstler und Handwerker*innen investiert. Andererseits hat er die volle Kontrolle über alle Arbeitsschritte und Löhne.
Abb. 21: Chikankari mit vielen Stichen (Foto: M. Blechmann-Antweiler, 2014).
Abb. 22: Chikankari-Geschäft (Foto: M. Blechmann-Antweiler, 2023).
Abb. 23: Chikankari, durchsichtig (Foto: M. Blechmann-Antweiler, 2016).
Außer in der Stickkunst sind in allen Produktionsstufen ausschließlich Männer tätig. Die Stickarbeiten werden fast ausschließlich von Frauen ausgeführt. Die Männer arbeiten vorrangig in der Stadt und können sich, wenn nötig, absprechen und weitere Kund*innen bedienen, sind also im Gegensatz zu den Stickerinnen relativ unabhängig von der Chikankari-Produktlinie. Denn die Stickerinnen arbeiten jeweils nur für einen Händler und leben verstreut in verschiedenen Dörfern der weiteren Umgebung von Lucknow. Ihre Situation ist deswegen besonders schwierig. Sie sind nicht untereinander vernetzt, können sich also nicht etwa wegen höherer Lohnforderungen absprechen oder gewerkschaftlich organisieren. Sie nennen sich selbstständig, haben aber kaum direkten Zugang zum Markt und auch keine finanzielle Sicherheit. Das zeigte sich besonders deutlich während der Covid-19-Pandemie, als viele Stickerinnen ohne Arbeit waren. Auch das Equipment und die Arbeitsumgebung sind allein ihre Sorge. Sie sticken sehr komplexe Muster mit schwierigen Stichen, die von Müttern auf ihre Töchter weitergegeben werden, tradieren also das Kunsthandwerk, das Lucknow berühmt macht. Für Kund*innen sind sie jedoch kaum wahrnehmbar.
Ausweg aus der Abhängigkeit der Stickerinnen vom Händler
In einer Untersuchung aus dem Jahr 1979 stellte die UNICEF fest, dass Chikankari-Stickerinnen wesentlich stärker ausgebeutet werden als in jedem anderen Handwerk des nicht organisierten Sektors. Sie werden außerordentlich schlecht bezahlt und erst in den vergangenen Jahren setzte ein allmählicher Wandel ein.
In Lucknow gründeten schon 1984 Sozialarbeiter*innen zusammen mit Chikankari-Stickerinnen eine autonome Organisation, die The Self Employed Women’s Association (SEWA). Hier vernetzen sich Stickerinnen, bilden sich auf in Fragen des Managements weiter, erlernen Führungskompetenz und Buchhaltung und sorgen so dafür, dass sie ohne die Zwischenschaltung von Mittelsmännern für ihre Arbeit einen gerechten Lohn erhalten. Mit diesem Zeil gründen sie auch eigene Geschäfte in der Stadt, wo sie ihre Produkte verkaufen. Außerdem erhalten die Stickerinnen Sozialleistungen aus Bildungs-, Gesundheits- und anderen rechtsbasierten Einrichtungen für sich und ihre Kinder. Nach und nach entstehen immer mehr Organisationen, vor allem seit der COVID‑19‑Pandemie. Diese Organisationen arbeiten mit ähnlichen Zielen. Sowohl der indische Staat als auch die Stadt Lucknow sind an dieser Arbeit interessiert, denn mit Chikankari wird eine wichtige indische Tradition fortgeführt, die zahlreiche Tourist*innen anzieht. Damit wird viel Umsatz gemacht, was hohe Steuern einbringt.
Dies lässt hoffen, dass endlich alle Stickerinnen ihren gerechten Lohn, verdiente Beachtung, gute Ausbildung für sich und ihre Kinder, soziale Vernetzung und Marktzugang erhalten und aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit von Geschäftsmännern herauskommen.
Organisationen, die Frauen in der Chikankari-Produktion von Lucknow fördern
ODOP – One District One Product: 2018 gegründete Organisation der Regierung, um regionale Handwerkskunst zu fördern. Chikankari war das Pilot-Projekt.
Skill India Mission-Initiative: ein im Jahr 2015 eingeführtes staatliches Programm, das die Jugend des Landes ausbilden und qualifizierte Arbeitskräfte schaffen möchte, mit Schwerpunkt auf Frauen und Kunsthandwerk und mit Garantie auf Beschäftigung.
NHDP – National Handicrafts Development Program: 2022 gegründet vom Ministerium für Textilien, mit Betonung auf Frauen.
IGSS ‒ Indo-Global Social Service: eine anerkannte Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Lucknow, die sich seit Jahren für eine Veränderung der Gesellschaft einsetzt, vor allem für Frauenförderung.
Stand-Up India: Initiative für Unternehmensgründung, für finanzielle Hilfe mittels Darlehen vor allem für Frauen, seit 2016.
Weiterführende Literatur
Mahapatra, N. N., 2016. Sarees of India. Havertown: Woodhead Publishing India PVT. LTD.
Manfredi, Paola, 2017. Chikankari: a Lucknawi tradition. New Delhi, India: Niyogi Books.
Gupta, Rinku, 2023. Wage determinants of creative industry workers: a quantile regression analysis of traditional Indian embroidery (chikankari) industry workers of Lucknow. In: Regional science policy and practice: RSPP. Amsterdam/Oxford. Bd. 15 (2023), 5 (Juni), S. 1008‒1018.
Singh, A., M. Gahlot, and A. Rani, 2013. Giving a new dimension to Chikankari: An amalgamation of Aipan and Chikankari. Saarbrücken: LAP LAMBERT Academic Publishing.