Fäden weiblicher Abhängigkeit im antiken Rom
Giulia Cappucci
BCDSS PhD Researcher
Ein kleines lateinisches Epitaph erinnert an Phryne. Sie war eine versklavte Frau aus Nordafrika, die im frühen kaiserlichen Rom als Spinnerin im Haushalt einer Sklavenhalterin arbeitete. Trotz seiner Kürze ist dieser einfache Text nicht nur die einzige Quelle, die Licht auf Phrynes kurzes Leben wirft, sondern er ermöglicht uns auch, die weiblich konnotierten Tätigkeiten des Spinnens und Webens im kaiserlichen Rom und ihre kulturellen Bedeutungen aus der Perspektive von Außenstehenden der römischen Gesellschaft zu erkunden: einer jugendlichen Versklavten.
Transkription:
Phryne Tertullae (scil. serva) quasillaria,
Africana,
hic quiescit; vixit an(nis) XVII.
Übersetzung:
Hier schläft Phryne, eine afrikanische
versklafte Spinnerin von Tertulla. Sie lebte
siebzehn Jahre.
Abb. 1: Zeichnung einer Marmortafel mit dem Epitaph von Phryne, einer versklavten Frau und Spinnerin (quasillaria), die Tertulla, einer Sklavenhalterin, gehört (Zeichnung: A. Schüssler, 2024 nach Original: AE 1928, 9. I-III Jahrhundert u. Z. Aus Rom (?), unbekannter Fundort: Rom, Via Masina 5, American Academy in Rome, Hof 18, Inv. no. 9347).
Die kleine Marmortafel (Abb. 1) mit der Grabinschrift stammt vermutlich von einem kollektiven Grabdenkmal (columbaria), wie es für die Stadt Rom zu Beginn des Kaiserreichs (1. Jh. bis frühes 3. Jh. u. Z.) typisch war. Dort fanden die Angehörigen der unteren Schichten, sowohl versklavte Menschen als auch Freigelassene eine Grabstätte für sich und ihre Verwandten. Es waren zumeist Urnenbestattungen. Trotz des unbekannten Fundorts dieser Marmortafel lässt sich aufgrund ihrer Beschaffenheit ihre Funktion leicht bestimmen. Sie hat einmal die für ein Urnengefäß vorgesehene Nische umrahmt.
Abb. 2: Detail vom Prometheus Sarkophag (Foto: Sailko [Francesco Bini], 2013, Bildquelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Sarcofago_col_mito_di_prometeo_e_la_creazione_dell%27uomo,_da_pozzuoli,_6705,_07.JPG, CC BY-SA 3.0).
Abb. 3: Salbölgefäß (lekythos) mit Darstellungen von Frauen bei der Textilherstellung. Amasis-Maler, 550–530 v. u. Z. The Metropolitan Museum of Art, New York, Inv. 31.11.10, H: 17,1 cm (Foto: The Metropolitan Museum of Art, New York, o. J.).
Abb. 3a: Detail: Frauen beim Spinnen (Foto: The Metropolitan Museum of Art, New York, o. J.).
In der römischen Welt galten Spinnen und Weben wie in vielen antiken Kulturen als weibliche Aktivitäten par excellence (Abb. 2 – 4). Für die patriarchalische Gesellschaft, die durch Versklavung von Menschen geprägt war, gehörte die Tuchproduktion, insbesondere die Wollverarbeitung, zum Modell der idealen römischen Ehe- und Hausfrau. Sie war gehorsam, ehrlich, keusch, loyal dem Ehemann gegenüber und führte fleißig ihren Haushalt, indem sie am Webstuhl für Kleidung für den gesamten Haushalt sorgte. Daher wurden Spinnen und Weben zu Tätigkeiten, die weibliche häusliche Tugenden zum Ausdruck brachten.
Abb. 4: Grabplatte, D-DAI-ROM-82VW.743 (Foto: G. Fittschen, o. J.)
Im frühen Kaiserreich (1. Jh. bis frühes 3. Jh. u. Z.) waren die größten und reichsten Haushalte jedoch kaum auf die Wollarbeit ihrer adligen Frauen angewiesen, um ihren Bedarf an Kleidung zu decken. Eine großangelegte Textilproduktion mit spezialisierten Werkstätten hatte sich bereits im Laufe der Jahrhunderte in der Republik entwickelt. Sie versorgte die freigeborenen Mitglieder wohlhabender Haushalte mit hochqualitativen Textilien und Kleidung. Gleichzeitig stellten in denselben Haushalten versklavte und freigelassene Textilarbeiter*innen Kleidungsstücke für die Mitglieder des Personals her. Die versklavte Phryne war eine dieser heimischen Textilhersteller*innen.
Wir kennen Phryne nur dank ihrer Grabinschrift, die besagt, dass sie die Versklavte einer anderen Frau, Tertulla, war und ihr diente. Der Text gibt Aufschluss darüber, dass Phryne im Alter von 17 Jahren starb und zuvor im kaiserlichen Rom gelebt und gearbeitet hatte. Sie war dorthin aus den römischen Territorien in Nordafrika verschleppt worden. Die Grabinschrift betont ebenso den Beruf des Mädchens in Tertullas Haushalt: Phryne war eine quasillaria, eine Spinnerin, die die Wolle mit dem Spinnrocken spann. Diese Tätigkeit, die immer eine exklusiv weibliche blieb, erforderte weder eine spezielle Ausbildung noch besondere Fertigkeiten. Das Spinnen mit Wolle konnte auch von Hausangestellten mit anderen Aufgaben in ihrer Freizeit ohne großen Aufwand ausgeführt werden. Aus diesen Gründen gehörten quasillariae wie Phryne zu den weniger geschätzten Haushaltsfachkräften und hatten nur wenige Chancen, ihre Bedingungen zu verbessern oder die Freilassung zu erlangen.
Trotz der niedrigen beruflichen Stellung, welche Phryne in der Hierarchie des Haushalts innehatte, beschloss entweder sie selbst oder jemand aus ihrer Verwandtschaft oder ihrem persönlichen Umfeld, sie in einer Grabinschrift zu erwähnen. Dieses Detail zeigt vielleicht, dass der Beruf einer quasillaria ein zentrales Element von Phrynes Identität war, welches sie trotz ihres Status als benachteiligte und durch Versklavung entpersonalisierte Frau geltend machte. Nachdem sie gestorben war, erinnerte die Grabtafel an ihren Beruf, weil dieser offenbar ebenso zu ihrer Identität gehörte wie ihr junges Alter und ihre geografische Herkunft.
Weiterführende Literatur
Günther R., 1987. Frauenarbeit – Frauenbindung. Untersuchungen zu unfreien und freigelassenen Frauen in den stadtrömischen Inschriften, München 1987 (especially pp. 109-124).
Larsson Lovén L., 1998. Lanam fecit. Woolworking and female virtue, in Larsson Lovén L., Strömberg A. (eds.), Aspects of women in antiquity. Proceedings of the first Nordic Symposium on Women’s Lives in Antiquity, Göteborg 12 – 15 June 1997, Jonsered 1998, pp. 85-95.
Larsson Lovén L., 2013. Female Work and Identity in roman Textile production and Trade: a Methodological discussion, in Gleba M., Pásztókai-Szeőke J. (eds.) Making textiles in pre-Roman and Roman times. People, places, identities, Oxford 2013, pp. 109-125.
Vicari F., 2001. Produzione e commercio di tessuti nell’Occidente romano, Oxford 2001.