Herabhängende Schnüre: Die Bindekraft andiner khipus
András Stribik
BCDSS Independent Collaborator / MA Student Universität Bonn
Abb. 1: Baumwoll-khipu aus Huacho, Peru. Ethnologisches Museum, Staatliche Museen zu Berlin, Inv.-Nr. V A 63040 (Foto: C. Obrocki, o. J.).
Das Inka-Reich, bekannt für seine steinernen Stätten, wie Machu Picchu in Peru, hinterließ auch viele andere Dinge, darunter khipus – geknotete Schnüre, die zur Datenaufzeichnung verwendet wurden. Diese Schnüre ermöglichten eine effektive Verwaltung, ohne auf eine Schriftsprache zurückgreifen zu müssen. Sie banden sowohl das einfache Volk als auch die Elite in das enge Gefüge des Inka-Staates ein. Nach der spanischen Eroberung des Inka-Reiches 1532 wurden khipus unter der Kolonialherrschaft zunächst noch verwendet, gerieten jedoch allmählich in Vergessenheit, und das Wissen zu ihrer Entschlüsselung ging im Laufe der Zeit fast vollständig verloren.
Das Inkareich war das größte indigene Reich, das jemals in Amerika existiert hat. Seine Quechua sprechenden Herrscher gaben ihm den Namen tawantinsuyu, was sich mit „Reich der vier Teile“ übersetzen lässt. Von Zentralperu aus eroberten die Inka ab dem 13. Jahrhundert ausgedehnte Territorien. Schließlich erstreckte sich das Reich von den trockenen Wüsten des heutigen Chile und Argentinien zu den westlichen Wäldern des Amazonas-Regenwaldes und bis zur bergigen Südspitze Kolumbiens weit im Norden.
Wie wurde nun ein so großes Reich organisiert und seine unterschiedlichen Gruppen und Kulturen eingebunden? Tatsächlich waren die verschiedenen Regionen durch ein ausgedehntes Straßensystem verbunden, welches insgesamt über 40.000 Kilometer umfasste – das entspricht dem Erdumfang! Auf sich gestellt wären diese erhöhten Straßen rasch wieder in sich zusammengesunken. Wenn es keine Möglichkeiten gegeben hätte, Befehle hinsichtlich Tributzahlung oder -eintreibung von den Palästen der Elite an dem einen Ende des Reiches an die örtlichen Gemeinden an das andere Ende zu senden, wären viele der Straßen unbenutzt geblieben. Um alle inkaischen Beamten zu organisieren und die einfachen Leute in den riesigen Komplex des Staates einzubinden, musste neben dem Bau von Straßen auch ein Verwaltungssystem entwickelt werden. Im Wesentlichen sollten damit die Tributzahlungen registriert und ausgeführt sowie Volkszählungen durchgeführt werden. Dafür entwickelten die Inka das System der khipus.
Khipu
Da die Andenvölker – und Südamerika im weiteren Sinne – keine Schriftsprache im europäischen Sinne entwickelt hatten, konnten sie Informationen nicht einfach auf ein Stück Papier schreiben und dieses versenden. Um administrative Daten aufzuzeichnen, entwickelten die Andenbewohner ein ganz anderes Notationssystem, welches – obwohl es uns fremd oder unleserlich erscheinen mag – für die Zwecke dieser einzigartigen Art der imperialen Verwaltung hervorragend geeignet war. Dieses Medium basierte nicht auf Schnitzereien in Holz oder Stein oder gar Malereien auf Papyrus oder anderen Materialien. Stattdessen wurden dafür Schnüre verwendet, die gesponnen, gefärbt und geknotet wurden, um komplexe Informationen in dreidimensionaler Art zu übermitteln. Khipus, manchmal auch quipu geschrieben, wurden von den Inka verwendet, um alle Informationen festzuhalten, die für die Verwaltung ihres dicht bevölkerten Reiches mit circa zehn Millionen Menschen notwendig waren. Wir können uns diese khipus als eine Art knotenbasierten Abakus vorstellen – die allerdings nur der Notation von Ergebnissen dienten, die zuvor separat zusammengetragen wurden.
Laut der spanischen Chronisten, die sich während und nach der Eroberung des Inkareiches im ehemaligen tawantinsuyu aufhielten, wurden khipus nicht nur zur Verwaltung von Tributen und Frondiensten genutzt, sondern möglicherweise sogar zur Erfassung historischer oder lexikalischer Informationen wie Dynastie-Geschichtsbücher und Gedichte oder landwirtschaftliche Kalender.
Abb. 2: Khipus gibt es in allen Formen und Größen. Und in so vielen Farben, dass selbst das Spektrum eines Regenbogens im Vergleich zu der breiten Palette an Farbtönen, mit denen das khipu gefärbt wird, verblassen würde. Sie wurden normalerweise aus Baumwolle gesponnen, aber für ihre Herstellung wurden auch Lama- und sogar feste Alpakawolle verwendet. Khipu aus Baumwolle und Kamelidenwolle, Pachacámac, Peru. Ethnologisches Museum, Staatliche Museen zu Berlin, Inv.-Nr. V A 42593 (Foto: C. Obrocki, o. J.)
Wer hat khipus gemacht?
Khipus wurden von einer Klasse von Verwaltern namens khipukamayuq (Quechua für khipu-Hersteller oder Experten) gesponnen. Indem sie verschiedene Arten von Knoten an Schnüren mit sorgfältig ausgewählten Farben befestigten, konnten die khipukamayuqs alle Daten aufzeichnen, die zur Führung des Reiches erforderlich waren. Tatsächlich lässt sich khipu aus Quechua einfach mit „Knoten“ übersetzen. Indem sie diese Knoten knüpften, verbanden die khipukamayuqs die Menschen des Reiches innerhalb des Gewebes von Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten. So viel hing von der Hintergrundarbeit dieser Webschreiber ab, dass einige Forscher im 21. Jahrhundert sie als die „größte Kraft bei der Etablierung und Aufrechterhaltung der Inka-Macht in ganz tawantinsuyu“ betrachteten (Urton und Chu 2015).
Aus der Zeit nach der europäischen Eroberung gibt es zahlreiche Beschreibungen und Abbildungen von Menschen, die khipus herstellten oder nutzten. Ein Beispiel ist das berühmte Werk von Guaman Poma de Ayala aus dem frühen 17. Jahrhundert, das er etwa 70 Jahre nach der Eroberung verfasste. Dieses Werk bildet heute eine der wichtigsten schriftlichen Quellen über das Inkareich und die Andenbevölkerung vor der spanischen Eroberung, da es viele Illustrationen und beschreibende Erläuterungen enthält. Auf einem der Bilder sehen wir einen khipukamayuq, der einen khipu ausbreitet (Abb. 3).
Abb. 3: Ein khipukamayuq breitet sein khipu aus. In der unteren linken Ecke ist ein Rechengerät namens yupana abgebildet. Damit stellten die Inka die Berechnungen an, die sie in ihre khipus knoteten. Royal Danish Library, GKS 2232 kvart: Guaman Poma, Nueva corónica y buen gobierno (c. 1615), page [360 [362]].
Wo kamen khipus zum Einsatz?
Ein herausragendes Merkmal des inkaischen Straßensystems waren Lagerhäuser, welche entlang der Straßen gebaut wurden. Ein Großteil der erwirtschafteten Überschüsse aus den verschiedenen Regionen des Reiches wurde in diesen Lagerhäusern aufbewahrt, oft Tausende von Kilometern entfernt von der Region ihrer Produktion. In diesen Gebäuden wurden riesige Mengen von Lebensmitteln, Kleidung und anderen Textilien sowie Waffen deponiert. Diese Vorräte dienten der Versorgung religiöser Spezialisten, Militärangehöriger und Verwalter, aber auch der Feldarbeiter. In Jahren schlechter Ernte hatte auch die bäuerliche Bevölkerung Anspruch auf die Vorräte.
Khipukamayuq spielten eine Schlüsselrolle in der Führung der Lagerhäuser, da alle dort befindlichen Vorräte mithilfe der Knotenschnüre verzeichnet wurden. Hunderte (wenn nicht Tausende) von khipu-Aufzeichnungen wurden in diesen Gebäuden aufbewahrt, um die Menge und Art der Waren zu erfassen, die die Lagerhäuser erreichten und wieder verließen. Neben archäologischen Belegen dieser Aktivitäten veranschaulicht auch Guaman Poma de Ayala dieses Verwaltungssystem auf der Basis der khipus.
Abb. 4: Ein khipukamayuq zeigt seine Arbeit einem Inka-Kaiser namens Tupaq Inka Yupanki. Royal Danish Library, GKS 2232 kvart: Guaman Poma, Nueva corónica y buen gobierno (c. 1615), page [335 [337]].
Das Rätsel der khipus
Wie die khipukamayuqs all diese Informationen zu Tributen von Zehntausenden Bürgern oder die Familiengeschichten von Elitegruppen aufzeichneten, ist bis heute unbekannt. Leider verzeichnet kein europäischer Text auch nur eine einzige Beschreibung, wie khipus gelesen werden, oder zumindest ist nichts erhalten geblieben, das wir studieren könnten. Die Art und Weise, wie die Knoten, Farben und sogar die Art des Materials oder Richtung der Fäden im Zusammenspiel funktionierten, um Etiketten, Namen, Orte und Ereignisse zu kodieren, ist eines der großen Geheimnisse der Inkageschichte, das bis zum heutigen Tage kein neugieriger Geist oder begeisterte*r Forscher*in zu lösen vermochte. Selbst nach über hundert Jahren Forschung zu diesen Objekten sind die Zahlen, die durch Knoten dargestellt werden, das Einzige, was wir bislang gesichert lesen können. Jede andere Information eines khipu bleibt bislang unzugänglich. Wenn es gelänge, den Code zu knacken, würden wir möglicherweise ein fragmentiertes historisches Archiv vor uns haben, das von den Inka selbst erstellt wurde.
Abb. 5: Khipu. Ethnologisches Museum, Staatliche Museen zu Berlin, Inv. Nr. V A 42544 (Foto: Claudia Obrocki, o. J.).
Das Schicksal des khipu
Khipus waren ein praktisches Werkzeug in den Händen der andinen Elite. Sie verwendeten die mehrfarbigen Knotenschnüre, um die Bevölkerung an sich zu binden und zu gemeinschaftlicher Arbeit und Tributzahlungen zu verpflichten. Dies ermöglichte der inkaischen Elite einen luxuriösen Lebensstil und die Errichtung von steinernen Zeugnissen, wie Gebäude und Straßen, welche die Zeit bis heute überdauerten.
Bald nach der Ankunft der Europäer verlor die indigene Elite an Einfluss, während die Spanier*innen allmählich die Macht übernahmen. Bald schon wurden die Fäden nicht mehr von den mit Federn und Gold geschmückten inkaischen Herrschern gezogen, sondern von den neuen „Fürsten“, die der spanischen Krone und Kirche dienten. Wie viele der andinen Gebräuche wurde auch die Nutzung der khipus im Schatten der lateinischen Schrift schließlich obsolet. Zu Beginn ihrer Herrschaft akzeptierten die Spanier*innen den Einsatz der khipus noch. Doch das änderte sich allmählich, und bald werteten die Invasoren die khipus als Symbole des Heidentums ab oder sahen darin Werkzeuge indigenen Widerstands. Folglich verschwanden die khipus gegen Ende der Kolonialzeit aus dem Gebrauch und aus dem öffentlichen Bewusstsein. Damit ging das Wissen über die Kodierung verloren. Trotzdem gibt es auch heute noch einige Dörfer, in denen khipus aufbewahrt werden und sogar noch einige, in denen sie in Benutzung sind, also neu hergestellt werden.
Weiterführende Literatur
Ascher, M., and R. Ascher, 1997. Mathematics of the Inca: Code of the Quipu. New York: Dover Publications.
Guamán Poma de Ayala, Felipe, 1613. Guaman Poma: El Primer Nueva Corónica y Buen Gobierno. Copenhagen: Museum Tusculanum Press, University of Copenhagen, 2002.
Hyland, S., 2017. “Writing with twisted cords: The inscriptive capacity of Andean khipus”, Current Anthropology, 58 (3), 412–419. doi:10.1086/691682.
Urton, G., 2017. Inka History in Knots: Reading Khipus as Primary Sources. Austin (TX): University of Texas Press.
Urton, G., and A. Chu, 2015. “Accounting in the King’s Storehouse: The Inkawasi Khipu Archive.” Latin American Antiquity 26 (4), 512–529. doi:10.7183/1045-6635.26.4.512.