Lotusseide: Die Überwindung asymmetrischer Abhängigkeit
Beatrix Hoffmann-Ihde
BCDSS Exhibition Curator
Lotusseide wird im südlichen Asien seit vielen Jahrhunderten hergestellt. Weil die Gewinnung der Fasern und ihre Verarbeitung zu Garn äußerst rohstoff- und arbeitsintensiv sind, zählt Lotusseide zu den kostbarsten Naturfasern überhaupt. Daher war lange Zeit das Tragen von Kleidung aus Lotusseide nur einer kleinen Anzahl von Menschen vorbehalten und unterstrich ihre religiöse, politische oder ökonomische Macht. Die Produzent*innen hingegen profitierten nicht von der Kostbarkeit der Faser, sondern verharrten in den asymmetrischen Abhängigkeitsbeziehungen, die sie zur aufwendigen Verarbeitung von Lotus zwangen. Gegenwärtig zeichnet sich jedoch ein Wandel ab und die globale Nachfrage nach Lotusseide steigt. Seit das hochpreisige Segment der Modeindustrie Lotusseide für die Produktion von Luxuskleidung einsetzt, bietet deren Herstellung lokalen Bäuer*innen zusätzliche Einkommensmöglichkeiten und damit eine Chance auf ökonomische Sicherheit und Unabhängigkeit.
Lotus: Symbol der Reinheit und Erleuchtung
Der rosa oder weiß blühende Lotus gilt in Indien sowie in Ost- und Südostasien als Symbol der Erleuchtung und der Reinheit von Geist und Seele (Abb. 1). Die tiefe Symbolik des Lotus und seine enge Verknüpfung mit dem Heiligen spiegeln sich in der religiösen und philosophischen Literatur ebenso wider wie in Legenden und Mythen. Gleich nach seiner Geburt tat Siddharta Gautama, der erste Buddha, sieben Schritte und in jedem seiner Fußabdrücke erblühte ein Lotus (Abb. 2). Eine der bekanntesten Schriften des Mahayana-Buddhismus ist das „Lotus-Sutra“ und auch in der religiösen Ikonografie hat der Lotus seinen festen Platz. Viele Mandalas, die für hinduistische und buddhistische Gebets- und Meditationspraxen bedeutsam sind, orientieren sich an der Grundstruktur einer Lotusblüte (Abb. 3). Häufig werden Buddhas, Erleuchtete, auf einem Lotusthron sitzend dargestellt (Abb. 4). Buddhist*innen und Hinduist*innen bringen in Tempeln und Schreinen Lotusblüten als Ausdruck ihrer religiösen Verehrung dar (Abb. 5).
Abb. 1: Lotusblüten (Foto: B. Ihde, 2023).
Abb. 2: Buddha ging nach seiner Geburt sieben Schritte und unter jedem seiner Fußabdrücke erblühte ein Lotus (Foto: Shutterstock, 2288574135, Lizenz 2024).
Abb. 4: Der meditierende Buddha auf dem Lotusthron (Foto: Shutterstock, 97257167, Lizenz 2024).
Abb. 3: Buddhistisches Mandala (Foto: Shutterstock 2208789911, Lizenz 2024).
Abb. 5: Lotusblüten in einem buddhistischen Schrein als Ausdruck religiöser Verehrung (Foto: B. Ihde, 2023).
Die Kostbarkeit des Lotus
Doch der Lotus hat heute nicht nur religiöse Bedeutung, sondern auch einen hohen wirtschaftlichen Wert. Für viele Bäuer*innen ist der Anbau von Lotus eine wichtige Einnahmequelle (Abb. 6 + 7). Sie liefern ihre Blütenernte an Lotushändler*innen oder verkaufen die edlen Gewächse selbst auf Märkten und vor Tempelanlagen. Auch die weniger ansehnlichen Pflanzenteile wie Wurzeln, Stängel, Blätter und Samenstände tragen zum Einkommen bei. Sie werden als Gemüse gegessen oder getrocknet und zu Tee oder Mehl verarbeitet, aus dem wiederum verschiedene Speisen hergestellt werden. Aus den Stängeln und Blättern des Lotus lassen sich außerdem Fasern gewinnen, die zu den teuersten textilen Naturrohstoffen weltweit zählen. Das daraus hergestellte Garn wird zu Lotusseide und exklusiver Kleidung verarbeitet, die zu tragen nur wenigen Menschen vorbehalten war. Die Lotusseide etwa, welche die Frauen der Intha am Inle-See in Myanmar herstellten, war zunächst ausschließlich für hohe buddhistische Mönche bestimmt und unterstrich deren Position in der religiösen Hierarchie. Kleidungsstücke aus Lotusseide sind auch heute noch höchst exklusiv. Doch aus der oftmals religiös begründeten Zugangsbeschränkung ist längst eine ökonomische geworden. In der globalen Modebranche ist Lotusseide als eine der weltweit kostbarsten Naturfasern hochbegehrt. Daraus stellen hochpreisige Labels exklusive Kleidung für zahlungskräftige Kund*innen her, sodass der Bedarf an dem Rohstoff seit Jahren kontinuierlich steigt.
Abb. 6: Lotussfeld vor der Ernte (Foto: B. Ihde, 2023).
Abb. 7: Lotusfarm (Foto: B. Ihde, 2023).
Wege aus der Abhängigkeit: Faire und nachhaltige Produktion von Lotusseide
Lotusseide hat nicht nur angenehme Trageeigenschaften, sondern ihre Herstellung ist nachhaltig und bietet angesichts der Ausbeutungsmechanismen der globalen Textilindustrie ein ungewöhnlich starkes Potenzial für faire Bezahlung der Produzent*innen. Denn die Gewinnung und Verarbeitung der Fasern kann nur dort erfolgen, wo der Lotus auch wächst und in großen Mengen angebaut wird. Die Stängel und Blätter, aus denen die Fasern gewonnen werden, müssen unter ständigem Befeuchten innerhalb von 24 Stunden zu Garn verarbeitet werden. Damit das frische Garn nicht bricht, wird es anschließend diverse Male umgespult und schließlich mit Reisstärke behandelt. Bis heute geschieht die Fasergewinnung ausschließlich von Hand und hat sich jeder Mechanisierung verweigert. Damit ist diese zusätzliche Einnahmequelle für Lotusbäuer*innen bisher nicht durch den Einsatz von Maschinen oder eine Verlagerung der Produktion gefährdet.
Für Lotusbäuer*innen bildet die Garnherstellung einen willkommenen Zusatzverdienst. Denn so finden die Stängel und Blätter, die in großen Mengen nach der Lotusernte anfallen, auch eine Verwertung und werden nicht mehr dem Zerfall überlassen. Den nötigen Zugang zu den Absatzmärkten für Lotusgarn bieten heute kleine Webereien, die lokale Einzelunternehmer*innen und vereinzelte Kooperativen betreiben. Ein kambodschanisches Beispiel ist Samatoa, eine bäuerliche Kooperative in der Nähe der alten Königshauptstadt Siem Reap. Mit Unterstützung des französischen Aktivisten Awen Delaval entstand eine kleine Lotusseidenfabrik, welche die Abfallprodukte der umliegenden Lotusfarmen zu fast 100 Prozent weiterverarbeitet. Das überwiegend in Heimarbeit hergestellte Lotusgarn wird an Webstühlen der Kooperative zu Stoffbahnen verarbeitet. Daraus wird in der Schneiderwerkstatt der Kooperative nach Designerschnitten oder als Maßanfertigung nach dem Wunsch von Kund*innen Kleidung genäht. Neben dem Hauptprodukt Lotusseide stellt die Kooperative außerdem Lotuspapier, -seife, -tee, -schmuck und veganes Leder her. Die Produkte verkauft sie im eigenen Laden an Tourist*innen und weltweit über das Internet (https://lotussilkfarm.com/shop-lotus-silk-clothes/).
Vom Lotusfeld zum Garnknäuel
Die Garngewinnung aus Lotusstängeln ist ein langwieriger Prozess, eine Person stellt pro Arbeitstag etwa 80 bis 100 Meter Garn her. Nach der Ernte werden die Stängel zunächst im Wasser gelagert, bis sie mit einem Metallschwamm von ihren kleinen Dornen befreit werden (Abb. 8 + 9). Dann beginnt die eigentliche Fasergewinnung: Mehrere Stängel werden als Bündel gegriffen und im Abstand von fünf bis sieben Zentimetern angeritzt und gebrochen (Abb. 10). Beim Auseinanderziehen der Bruchstellen treten die Fasern hervor, die unter morphologischen Gesichtspunkten eher ein Sekret darstellen, das die Zellwände des Lotus verstärkt (Abb. 11). Erst durch den Verarbeitungsprozess entsteht aus diesem Sekret ein Garn, indem es auf ein feuchtes Brett gezogen und dann gerollt wird (Abb. 12). Dabei entstehen kurze Fadenenden, die immer wieder durch weiteres Anfeuchten und Rollen miteinander verbunden und anschließend auf- und mehrfach umgespult werden (Abb. 13). Dabei wird das Garn ständig befeuchtet, um seine Elastizität zu erhalten. Erst wenn durch das Umspulen sichergestellt ist, dass das Garn nicht mehr bricht, wird es mit Reisstärke veredelt und kann im nächsten Schritt gefärbt oder naturbelassen zu Stoff verwebt werden.
Abb. 8: Lagerung von Lotusstängeln bis zur Weiterverarbeitung in der Kooperative Samatoa/Kambodscha (Foto: B. Ihde, 2023).
Abb. 9: Entdornen der Lotusstängel (Foto: B. Ihde, 2023).
Abb. 10: Brechen der Lotusstängel zur Fasergewinnung (Foto: B. Ihde, 2023).
Abb. 11: Das Sekret der Lotusstängel tritt beim Auseinderziehen der gebrochenen Stängel hervor und wird durch Rollen zu Garn verarbeitet (Foto: B. Ihde, 2023).
Abb. 12: Garngewinnung aus Lotus in der Kooperative Samatoa/Kambodscha (Foto: B. Ihde, 2023).
Abb. 13: Auf- und Umspulen des Lotusgarns in der Kooperative Samatoa/Kambodscha (Foto: B. Ihde, 2023).
Weiterführende Literatur
Chaw Su Hlang, 2016. Lotus Robe in Kyaing Khan Village Innlay Lake, Shan State (South): An Anthropological Perspective. In: Dagon University Research Journal 2016, Vol. 7/1 pp: 91-102.
Herpell, Gabriela, 2023. Die schwimmenden Gärten von Birma. In: Süddeutsche Zeitung Magazin (https://web.archive.org/web/20130329215443/http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/35607/1/1).
Philipsson, Alice, 2020. The Fabric of Success: How ‚Lotus Silk‘ is weaving its way into Vietnam. Courthouse News Service.
Rusch, Waltraud, 2017. Lotusseide aus Myanmar. Die Faser, die im Wasser wächst. Schriftenreihe Textil-Kultur-Mode. Fachverband …textil..e.V. Wissenschaft-Forschung-Bildung. BoD.
Stevens, Wilfried, 2017. Lotus-Seide – ein edler Stoff. Eine der ungewöhnlichsten Stoffarten der Welt. DER FARAN. Newsportal für Urlauber & Residenten in Thailand.
Theingi Myint et al., 2018. Lotus Fiber Value Chain in Myanmar. A study conducted on behalf of the Regional Biotrade Project. Helvetas Vietnam-Laos-Myanmar.