Maschen der Abhängigkeit: Ein Nasca-Textil aus der Bonner Amerikas-Sammlung
Christian Mader & David Beresford-Jones
BCDSS Research Group Leader & BCDSS Fellow
Textilien der Nasca-Kultur (200 v. u. Z.–600 n. u. Z.) gehören zu den eindrucksvollsten und spektakulärsten materiellen Hinterlassenschaften der prähispanischen Amerikas. Bei diesem ungewöhnlichen Nasca-Textil aus der Bonner Amerikas-Sammlung handelt es sich um ein polychrom bemaltes Gewebe aus Baumwolle und Kamelidenwolle, das links ein felinenartiges Mischwesen und rechts eine Stabgottheit, ebenfalls ein Mischwesen, zeigt.
Textilien in den prähispanischen Anden
In den prähispanischen Anden wurden einige der hochwertigsten Textilien der Menschheitsgeschichte hergestellt (Abb. 1 ‒ 5). Deren Herstellung war mit einem enormen Arbeitsaufwand verbunden, insbesondere beim Spinnen der feinen Garne von Hand. Es ist daher kein Zufall, dass die industrielle Revolution im 18. Jahrhundert mit der Mechanisierung der Textilproduktion begann. Die Notwendigkeit, die Arbeitskraft in der Textilproduktion zu organisieren und zu kontrollieren, führte in der prähispanischen Zeit auch zu wachsenden sozialen Ungleichheiten und asymmetrischen Abhängigkeiten. Zudem dienten andine Textilien als wichtige soziale Indikatoren, sodass sie diese Arbeits- und Abhängigkeitsprozesse exemplarisch verkörpern. In der jahrtausendealten andinen Textiltradition, deren Wurzeln in der präkeramischen Webtechnik für Fischernetze liegen (Beresford-Jones et al. 2018) (Abb. 6), wurden neben Baumwolle auch die tierischen Fasern der Andenkameliden, insbesondere der domestizierten Alpakas (Vicugna pacos), verwendet. Die Geschichte der Baumwolle (Gossypium barbadense) ist nach ihrer Domestizierung an der südamerikanischen Pazifikküste vor etwa 7.000 Jahren sicherlich wie die kaum einer anderen Kulturpflanze mit Sklaverei und den stärksten Formen asymmetrischer Abhängigkeit verbunden (Beckert 2014).
Abb. 1: Fragment eines Lendenschurzes. Baumwolle und Kamelidenfaser. Webmuster mit Seevögeln und zusätzlichem Schussmuster. Späte Zwischenzeit (ca. 1000 – 1476 u. Z.), vermutlich Chancay-Tal/Zentralküste Peru. BASA-Museum der Universität Bonn, Inv. Nr. RV 24. Restauriert und fotografiert aus Mitteln des BCDSS (Foto: B. Frommann, 2024).
Abb. 2: Geflochtenes Band. vermutlich Frühe Zwischenperiode, späte Nazca-Zeit, ca. 600 u. Z. Baumwolle und Kamelidenfaser, BASA-Museum der Universität Bonn, Inv. Nr. 5726. Restauriert und fotografiert aus Mitteln des BCDSS (Foto: B. Frommann, 2024).
Abb. 3: Fragment eines bemalten Baumwollpanels. Späte Zwischenperiode (1000 – 1476 u. Z.) Vermutlich Zentralküste Peru: Chancay-Tal. BASA-Museum der Universität Bonn, ohne Inv. Restauriert und fotografiert aus Mitteln des BCDSS (Foto: B. Frommann, 2024).
Abb. 4: Textilfragment, Mittlerer Horizont (600 – 1000 u. Z.) aus dem Gräberfeld von Ancón, Zentralküste Peru, abgebildet in Reiss & Stübel, 1880-1887, Tafel 50. Gewebe aus Kamelidenfaser und Baumwolle in Schlitzwebtechnik mit Darstellung einer Stabträger-Figur, die einen Trophäenkopf hält.
Abb. 5: Unku (Hemd) aus Baumwolle und Kamelidenfaser in Schlitzwebtechnik hergestellt. Darstellung von Meeresmotiven (hier Wellen), typisch für das Chimor-Reich, späte Zwischenzeit (ca. 1000–1476 n. Chr.), nördliche Zentralküste Perus. Die weite Form des Hemdes lässt darauf schließen, dass es eher für ein Mumienbündel als für den Alltagsgebrauch gedacht war. Musées royaux d’art et d’histoire / Koninklijke Musea voor Kunst en Geschiedenis. Inv. Nr. AAM 00046.7.343. (CC BY– RMAH / © ImageStudio RMAH Brussels).
Abb. 6: Fragmente eines präkeramischen Fischnetzes aus Bastfasern von La Yerba III an der Mündung des Rio Ica, Südküste Peru, ca. 6000 Jahre alt, C14-datierung: 6176 – 5910 cal BP (Foto: D.G. Beresford-Jones, 2015).
Ein ungewöhnliches Nasca-Textil
Bei dem Nasca-Textil aus der Bonner Amerikas-Sammlung (BASA-Museum; Inv.-Nr. Ho 16) handelt es sich um ein polychrom bemaltes Stoffstück (H: 60 cm, B: 92 cm) aus Baumwolle und Kamelidenwolle (Abb. 7). Außer der Angabe, dass das Textil aus der Sammlung von Erwin Hoess stammt, haben wir leider keine Informationen zu seinem Kontext, d.h. wir wissen nicht, woher das Textil genau kommt, unter welchen Umständen es gefunden oder ausgegraben wurde und wann und wie es in eine Privatsammlung in Deutschland gelangte. Aufgrund des Stils seiner Darstellungen wird das Textil der archäologischen Nasca-Kultur (200 v. u. Z.–600 n. u. Z.) an der Südküste des heutigen Peru zugeordnet. Die materiellen Hinterlassenschaften der Nasca-Kultur – mit ihren technisch oft anspruchsvollen und hochwertigen Textilien, aber auch ihren berühmten Feinkeramiken (Abb. 8 ‒ 10) und Metallartefakten, die oftmals Teil von umfangreichen Grabbeigaben waren – zeugen von einer hierarchisch organisierten Gesellschaft mit religiösen und politischen Eliten, einer ausgeprägten Arbeitsteilung mit spezialisiertem Handwerk und Landwirtschaft sowie Abhängigkeitsverhältnissen, die die Beziehungen zwischen den verschiedenen sozialen Schichten definierten (Silverman & Proulx 2002; Pardo & Fux 2017).
Abb. 7: Fragment eines polychrom bemalten Textils in Leinwandbindung, das im Stil der Nasca-Ikonographie (ca. 100–500 n. Chr.) bemalt ist. Möglicherweise eine moderne Fälschung. Sammlung Erwin Hoess, BASA-Museum der Universität Bonn, Inv. Nr. Ho 16. Restauriert und fotografiert aus Mitteln des BCDSS (Foto: P. Czerwinske, 2024).
Abb. 8: Frühe Zwischenzeit, frühe Nasca-Phase (ca. 100 – 300 u. Z.), polychromer, mit Schlicker verzierter und gebrannter Becher, Südküste Perus. BASA-Museum der Universität Bonn, Inv. 3099 (Foto: B. Frommann, 2024).
Abb. 9: Frühe Zwischenzeit, Spätphase Nasca (ca. 400 – 600 n. Chr.), polychromer, mit Schlicker verzierter und gebrannter Becher, Südküste Perus. BASA-Museum of Bonn University, Inv. GB 377 (Foto: B. Frommann, 2024).
Abb. 10: Frühe Zwischenzeit, frühe Phase Nasca (ca. 100 – 300 n. Chr.), polychromes, mit Schlickern verziertes und gebranntes Steigbügelgefäß, Südküste Perus. BASA-Museum der Universität Bonn, Inv. WI 44 (Foto: B. Frommann, 2024).
Die Darstellungsfläche des Nasca-Textils ist zweigeteilt und besteht aus einer linken Tafel mit grünem Hintergrund und einer rechten Tafel mit braunem Hintergrund. Auf beiden Seiten sind oben zwei Vögel abgebildet. Auf der linken Seite sind im unteren Bereich ebenfalls zwei Vögel dargestellt. Die Mitte der linken Tafel zeigt ein felinenartiges Mischwesen mit insgesamt vier zugehörigen Köpfen und sechs Beinen. Im zentralen Bereich der rechten Tafel ist eine sogenannte Stabgottheit oder Stabdämon zu sehen, ebenfalls ein Mischwesen aus Mensch und Orca (Schwertwal) oder Hai. Der Stab, den die Gottheit in der rechten Hand hält und der unten mit einem Kopf verziert ist, kann als Symbol der Macht verstanden werden. Wie auf der linken Tafel sind auch mit der Stabgottheit weitere Köpfe verbunden, in diesem Fall zwei fischartige. Neben der Stabgottheit befinden sich jeweils vier konzentrische Kreismuster (Nagy 2012).
Das Nasca-Textil ist durchaus ungewöhnlich und einzigartig, da es im Vergleich zu anderen erhaltenen bemalten Nasca-Textilien deutlich weniger sorgfältig ausgearbeitet ist und eine teilweise gemischte Bildsprache zwischen den beiden stilistisch nicht ganz übereinstimmenden Tafeln aufweist. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass es sich um eine Fälschung handelt, wobei gerade die Außergewöhnlichkeit auch für ein Original sprechen könnte, da in der Regel eher Textilien mit häufig vorkommenden und bekannten Motiven gefälscht werden. Zur endgültigen Klärung der Echtheit des Nasca-Textils sind archäometrische Untersuchungen des Gewebes und der aufgetragenen Farben notwendig. Insofern bleibt abzuwarten, inwieweit uns das Textil tatsächlich einen authentischen Einblick in die Welt der prähispanischen Nasca-Kultur gewährt. In jedem Fall spiegelt das Nasca-Textil auch unsere „moderne“ Welt wider, in der archäologische Objekte und Fälschungen zu Kunst werden und nicht zuletzt aufgrund heutiger Ungleichheits- und Abhängigkeitsverhältnisse weltweit in privaten und öffentlichen Sammlungen zu finden sind.
Abb. 11: Blick auf das UNESCO-Weltkulturerbe Nazca Pampa an der Südküste Perus mit einem seiner riesigen Palimpseste aus Geoglyphen, dieses zeigt einen Affen (Foto: B. Ihde, 2017).
Weiterführende Literatur
Beckert, S., 2014. Empire of Cotton: A Global History. New York: Penguin.
Beresford-Jones, D., Pullen, A., Chauca, G., Cadwallader, L., García, M., Salvatierra, I., Whaley, O., Vásquez, V., Arce, S., Lane, K., & French, C., 2018. Refining the Maritime Foundations of Andean Civilization: How Plant Fiber Technology Drove Social Complexity During the Preceramic Period. In: Journal of Archaeological Method and Theory, 25, S. 393–425.
Nagy, K., 2012. Textil mit der Darstellung einer „Stabgottheit“. In: Kultur- und Stadthistorisches Museum Duisburg (Hg.), Sammlung Köhler-Osbahr (Vol. VII, S. 86–87). Duisburg: WAZ.
Pardo, C., and Fux, P. (Ed.), 2017. Nasca – Peru: Archäologische Spurensuche in der Wüste. Zürich: Scheidegger & Spiess.
Silverman, H., & Proulx, D. A., 2002. The Nasca. Malden, MA: Blackwell.