Genähte Pfade in die Freiheit
Ece Beyret
BCDSS MA Studierende
Das Sammeln und Zuschneiden der Stoffe, das Einfädeln von Nähgarn in die Nadeln und das Erzählen von Geschichten beim Zusammennähen: das Quilten gilt in Nordamerika als Medium der nonverbalen Kommunikation, welches Frauen schon lange für sich nutzen. Mit dem Quilten setzten weiße und afroamerikanische Frauen nicht nur einen Schritt in Richtung Emanzipation, sondern fanden darin auch eine Möglichkeit, sich kreativ auszudrücken und untereinander zu kommunizieren.
Das Quilten brachten europäische Kolonialisator*innen und Einwander*innen mit nach Nordamerika. Neben ihrem praktischen Zweck, der Herstellung von wärmenden Decken, stärkte das Quilten auch die Identität weißer Frauen. Sie nutzten die gemeinsamen Nähstunden, um miteinander zu sprechen und sich untereinander zu verbünden. Aber auch afroamerikanische versklavte Frauen erlernten schon seit dem 17. Jahrhundert das Quilten in den Haushalten weißer Frauen. Auch sie nutzten es für sich als kreative Ausdrucksform und erzählen bis heute mit den Quilts von ihrer Geschichte und Kultur (Abb. 1). Dabei setzten sie – im Gegensatz zu den Quilts im europäischen Stil – auf kräftige Farben und asymmetrische Nähte. Letzteres, die asymmetrischen Nähte, erinnert an eine andere afroamerikanische Kunstform, den Jazz. Auch er ist von Asymmetrien geprägt und wirkt daher oftmals „schief“.
Abb. 1: Quilt „Into the light“, Entwurf: Lynda Ryan, 2006. Der Quilt zeigt Harriet Tubman, wie sie im 19. Jahrhundert ehemals versklavte Menschen durch gefährliche Gebiete in die Freiheit Kanadas führt. Die geometrischen Blöcke entlang der Ober- und Unterkante des Quilts zeigen einen visuellen Code, der von Ozella McDaniel Williams geteilt wurde. Ihre Vorfahren nutzten diesen Code, der nur unter Afroamerikaner*innen bekannt war, zur geografischen Orientierung, um auf sicheren Pfaden in die Freiheit zu gelangen (Foto: Mit freundlicher Genehmigung der Methodist Theological School in Ohio, D. Russels, 2024).
Beim Nähen wanderte die Nadel der Quilterin hierhin und dahin und behielt dabei immer eine gewisse Gleichmäßigkeit aufrecht – wie beim Rhythmus des Off-Beats, einem Kennzeichen des Jazz. Dieser Nähstil entsprach nicht der europäischen Art, zu nähen und Quilts anzufertigen. Die sporadischen und fast schon „schiefen“ Muster der afro-amerikanischen Quilts waren höchst unterschiedlich gestaltet. Sie wurden so komponiert, dass sie am Ende eine Geschichte erzählen. Diese umfasste oftmals viel mehr als nur einen Ausschnitt aus der eigenen Familiengeschichte. Und so dienten viele Quiltdecken nicht nur als wärmender Kälteschutz in langen Winternächten, sondern erzählten auch eine genähte Geschichte.
Die häufigsten Muster auf afroamerikanischen Quilts aus dem Ende des 19. Jahrhunderts waren Paare von Ringen, Kreuze, Hütten, Räder, Schleifen und Sterne. Sie schienen dekorative Muster auf farbenfrohen Decken zu sein. Doch sie bedeuteten viel mehr und wiesen geflohene versklavte Menschen auf sichere Orte und Straßen hin, die sie in die sogenannten freien Staaten führten. Dies waren alle Staaten der USA, die nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg die Sklaverei abgeschafft hatten. Die Quilts stellten somit eine Art Wegweiser in die Freiheit dar. Als solches waren sie Teil der sogenannten Underground Railroad, welche die versklavten Menschen zur Flucht in den Norden nutzten (Abb. 2). Die Muster auf den Quilts gaben gleichermaßen Wegbeschreibung und Lageinformation (Abb. 3 – 5).
Abb. 2: Karte der Underground Railroad (Karte: BCDH 2024, erstellt mit Natural Earth. Free vector and raster map data @ naturalearthdata.com.).
Abb. 3: Quilt. Underground Railroad “Colorful”. Wandbehang in Quilttechnik von Sharon Tindall, o. J., 70×85“ (Foto: S. Tindall, 2024).
Abb. 4: Quilt. Underground Railroad “Earthy”. Wandbehang in Quilttechnik von Sharon Tindall, o. J., 45×60” (Foto: S. Tindall, 2024).
Abb. 5: Quilt. Underground Railroad “Green”. Stern von Afrika, Sklavenkette, steiniger Weg nach Kansas, Charme und Vögel in der Luft. Wandbehang in Quilttechnik von Sharon Tindall, o. J., 29×25” (Foto: S. Tindall, 2024).
Unwissende sahen zum Beispiel in den beiden Ringen einfach Eheringe und lasen sie als Symbol für eine romantische Geschichte. Doch Eingeweihte erkannten darin Fesseln. Die Darstellung einer Straßenkreuzung verwies auf den Weg nach Cleveland/Ohio, einem großen Knotenpunkt der Underground Railroad. Von dort konnten die aus der Versklavung fliehenden Menschen in Eisenbahnzügen weiter in Richtung Norden gelangen. Sobald sie den Ohio River überquert hatten, befanden sie sich in den Free States in Freiheit. Der Stern zeigte den Flüchtenden an, wo Norden liegt, und die Räder bedeuteten, dass sie mit der Eisenbahn reisen konnten. Eine Schleife war das Symbol für eine Krawattenschleife und diente als Aufforderung, Trauerkleidung anzulegen, so als würde man*frau zu einer Beerdigung gehen – manchmal sogar zur eigenen, da es vorkam, dass versklavte Menschen zum Selbstschutz in Särgen reisten. Die einzelnen patches auf den Quilts bildeten nicht nur einen Kompass, sondern warnten auch all jene, die die Zeichen deuten konnten. Nicht nur die Muster auf den Quilts, sondern auch die Quilts selbst setzten ein Zeichen. Hingen sie vor einem Haus oder an einem Fenster, kennzeichneten sie einen sicheren Unterschlupf für Flüchtende, an dem sie sich ausruhen und die Weiterreise planen konnten. Daher erinnern viele afroamerikanische Quilts an Geschichten über das Grauen der Sklaverei und an die Selbstbefreiung aus der Versklavung durch Flucht.
Weiterführende Literatur
Bohde, Stefanie, [o. J.]. The Underground Railroad Quilt Code. https://www.academia.edu/418573/THE_UNDERGROUND_RAILROAD_QUILT_CODE?email_work_card=view-paper
Brackman, Barbara, 2006. Facts & Fabrications: Unraveling the History of Quilts & Slavery: 8 Projects, 20 Blocks, First-person Accounts. La Fayette/CA: C&T Pub.
Tobin, J. L. and Dobard, R. D., 2000. Hidden in Plain View: A Secret Story of Quilts and the Underground Railroad.
Walker, Alice, [1973] 1994. Everyday Use. In: Barbara T. Christian (ed.), Everyday Use. New Brunswick, NJ : Rutgers Univ. Press.
Campus View, 2016. New in the Gallery. Quilted mural depicts Underground Railroad. https://www.mtso.edu/about-mtso/news-publications/campus-view-archive/campus-view-october-2016/#quilt-mural-depicts-underground-railroad.