Rindenspitze aus dem jamaikanischen Lacebark-Baum
Steeve Buckridge
BCDSS Konferenz Keynote Speaker
In der britischen Kolonialgeschichte der Karibikinsel Jamaika war der Lacebark-Baum (Lagetta lagetto) wegen seiner faserigen Rinde als der „jamaikanische Wunderbaum“ bekannt.[1] Seine Rinde eignet sich bestens für den Gebrauch in Industrie, Landwirtschaft und im Haushalt. Die Baumrinde wurde vor allem für die Herstellung von Haushaltswaren und Kleidung genutzt (Abb. 1 + 2).[2]
Abb. 1: Karte der Karibik (Karte: A. Schüssler 2024, nach Vorlage von S. Buckridge o. J.).
Der jamaikanische Lacebark-Baum
Viele kolonialisierte und versklavte Menschen in Jamaika, die sich importierte Textilien aus Europa und Indien nicht leisten konnten, suchten nach einer preisgünstigen und praktikablen Lösung. Versklavte Menschen in Jamaika, die aus Gebieten in West- und Zentralafrika kamen, wo man Kleidung aus Rinde herstellte, nutzten dabei ihr ethnobotanisches Wissen, um pflanzliche Materialien aus Wäldern vor Ort zur Herstellung von Kleidung zu gewinnen. Sie erwarben das Wissen über die lokalen Pflanzen mit Unterstützung der indigenen Bevölkerung, den Taínos, und erweiterten dieses.[3] Zu Beginn des 17. Jahrhunderts begannen viele versklavte Frauen in Jamaika mit der Produktion von Tüchern aus Rinde, um damit zu handeln und Kleidung herzustellen. Sie stellten Tücher aus Rinde wie ihre Vorfahren in Afrika her. Diese Fähigkeiten gaben sie an ihre Nachkommen weiter. Das gängigste Tuch aus Rinde, das in Jamaika hergestellt wurde, bestand aus einem natürlichen Gewebe (Gaze) des Lacebark-Baumes Lagetta lagetto,[4] der zu einer von drei Arten der Gattung Lagetta gehört, welche zur Pflanzenfamilie der Thymelaeaceae gehört.[5] In Jamaika ist der Baum einfach als Lacebark bekannt und das daraus gewonnene Material nannte man Lacebark-Stoff.[6]
Abb. 3: Blätter des Lacebark-Baums (Foto: D. Golembeski, o. J.).
Beschreibung des Lacebark-Baumes
Der Lacebark-Baum hat lorbeerartige Blätter mit ovaler Form und ist an der Basis rund (Abb. 3). Der Baum variiert in der Höhe von etwa 1,80 – 9,75 m und der Stamm erreicht einen Durchmesser von bis zu 0,61 m. Der Baum braucht 15 bis 25 Jahre, um die volle Reife zu erreichen. Er blüht im April und Mai, die Blüten sind weiß und werden in endständigen Trauben produziert (Abb. 4).[7] Der Lacebark-Baum wächst in feuchten Kalksteinwäldern weit von der Küste entfernt auf einer Höhe von über 450 Metern, wo der jährliche Niederschlag mehr als 190 Zentimeter beträgt. In feuchten Kalksteinwäldern wächst der Baum an Hängen mit felsigem Boden, an Gefällen, die Teil des Unterblätterdachs des Waldes sind, wodurch es kompliziert wird, an die Bäume zu gelangen, um die Rinde zu ernten (Abb. 5).[8]
Abb. 2: Der Lacebark-Baum (Lagetta Lintearia), zusammen mit einer Probe von Lacebark-Stoff und einer Peitsche aus Lacebark. Plate IV aus William Hooker’s Journal of Botany and Kew Garden Miscellany, vol. II, 1850. (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hooker-Lagetta_lagetto.jpg?uselang=de).
Abb. 4: Blüten des Lacebark-Baums (Lagetta Lintearia) (Foto: Curtis’s Botanical Magazine Volume 76, Page 4502 (1850), Biodiversity Heritage Library).
Abb. 5: Verbreitung von Lacebark (Rindenspitze) in Jamaika (Karte: A. Schüssler 2024, nach Vorlage von S. Buckridge o. J.).
Lacebark-Baum ernten
Die Herstellung des Gewebes Gaze aus dem Lacebark-Baum war nicht besonders aufwändig. Die großen Äste und Stämme der reifen Bäume wurden für die Verarbeitung zersägt und dann wurden schmale Streifen der Rinde in Längsrichtung aus dem Baumstamm geschnitten. Oft wurden aber auch große Teile der Rinde aus dem Stamm genommen, so dass sich die Bäume davon nicht erholen konnten und starben. Mitunter wurden ganze Bäume gefällt, um die gesamte Rinde zu nutzen. Die Innenrinde des Lacebark-Baumes hatte eine feine Textur, fast schon elastisch, und war sehr stark. Sie konnte aber in dünnere Fäden zerlegt werden. Die Innenrinde wurde in Wasser getränkt und dann mit den Fingern herausgezogen, wodurch die Fasern mehr als fünfmal breiter wurden. Die Fasern wurden dann gestreckt und in der Sonne getrocknet. Das Endprodukt ähnelte Leinenstoff oder auch Spitze.
Anwendungen der Rinde
Viele versklavte und befreite Menschen in Jamaika entdeckten die Rinde dieses Baumes für sich. Kleidung aus der Rinde des Lacebark-Baumes hielt den Körper im warmen Klima kühl und war leicht zu haben. Näherinnen arbeiteten gerne mit der Rinde des Lacebark-Baumes, da Gaze gefärbt werden konnte, biegsam sowie langlebig war und zu modischen Outfits für Kunden zusammengenäht werden konnte. Unter den jamaikanischen Frauen strotzte diese Kleidung hinsichtlich der Entwürfe und des Stils geradezu vor Kreativität und Raffinesse. Doch die Rinde wurde nicht nur zur Kleiderproduktion genutzt, sondern kam auch für die Herstellung von Accessoires wie Bonnets, Fächern, Hochzeitsschleiern, Schals und Hausschuhen aus natürlicher Gaze zum Einsatz (Abb. 6 + 7). Daneben wurde die Rinde auch zur Herstellung von Decken und Läufern genutzt, um Tische und Wohnmöbel zu dekorieren. Die Rinde wurde für Fenstervorhänge und Raumteiler im Haus sowie beim Kochen verwendet. Natürliche Gaze wurde auch zum Bandagieren und sogar als Schutz oder Moskitonetz für Wiegen eingesetzt.[9] Außerdem bildete Gaze aus Rinde auch einen hervorragenden Ersatz, wenn europäischer Stoff knapp oder schlichtweg zu teuer war.[10] Der hergestellte Stoff war so exquisit und beliebt, dass sogar Sir Thomas Lynch, Gouverneur von Jamaika von 1671 bis 1674, dem König Karl II. von England (1660–1685) eine Krawatte aus Gaze schenkte.[11] Mit diesem Ereignis erzielte die vergleichsweise simple Industrie hinter dem Rindengewebe Aufmerksamkeit, sie gewann an Prestige und erntete Lob für die herausragenden handwerklichen Fähigkeiten der SCHWARZEN Frauen.
Abb. 6: Mütze aus Lacebark (Rindenspitze) aus Jamaika, 1833 von der Marquise Cornwallis gestiftet, SAFWM: 1833.60 (Foto: S. Hilton-Smith, 2024, © Saffron Walden Museum, Essex).
Abb. 7: Spitzenkleid aus Lacebark (Rindenspitze), 1833 von der Marquise Cornwallis gestiftet (Foto: S. Hilton-Smith, 2024, © Saffron Walden Museum, Essex).
Jamaikanischer Lacebark-Stoff heute
Als massenproduzierte europäische Kleidung und der entsprechende Stoff in den Zeiten nach der Emanzipation immer zugänglicher und erschwinglicher wurden, brach die Nachfrage nach Kleidung aus Lacebark-Stoff ein. Viele aus der Sklaverei befreite SCHWARZE Frauen entschieden sich bewusst gegen diesen Stoff, da dieser mit Sklaverei, Armut und niederen Klassen assoziiert wurde. Andere wurden nahezu magisch von der Fülle importierter Stoffe angezogen, da sie ihnen einst verwehrt waren und jetzt einfach erworben werden konnten. Einige befreite jamaikanische Frauen trugen importierte Stoffe aus Europa, da sie sich davon einen höheren Status in der jamaikanischen Gesellschaftsordnung versprachen.[12]
Die Fabrikation von Lacebark-Stoff lohnte sich immer weniger, und gegen Ende des 19. Jahrhunderts brach die Industrie dahinter vollständig zusammen, da auch der -Baum selbst aufgrund der Übernutzung immer seltener geworden war.In den 1890er Jahren führte der aufkommende Tourismus in Jamaika zu einem Aufflackern des Interesses am Lacebark-Baum zur Herstellung von Souvenirs. Der natürliche Stoff erhielt während der Londoner Industrieausstellung (Great Exhibition) von 1851 internationale Anerkennung, wobei die imperiale Macht Großbritanniens im Vordergrund stand und die industriellen Fortschritte aller Nationen zelebriert wurden. Jamaika trat mit einer kleinen Präsentation einheimischer Pflanzenfasern und -materialien auf der Ausstellung zum ersten Mal auf die große Weltbühne. Während der Ausstellung wurde Königin Victoria ein Kleid, das komplett aus jamaikanischer Gaze bestand, überreicht.[13]
Trotz – oder gerade wegen – der internationalen Anerkennung kam es zu einem starken Rückgang der Lacebark-Baum-Population in jamaikanischen Wäldern. Das lag vor allem an mangelnder Aufsicht durch Kolonialbehörden und lokale Produzenten sowie an nicht nachhaltigen Erntemethoden. Das Wissen und die Fähigkeit zur Herstellung von Kleidung aus Lacebark-Rinde ist mittlerweile verloren gegangen. Die meisten Jamaikaner*innen –einige wenige Expert*innen ausgenommen – haben noch nie etwas von Lacebark-Stoff gehört. In den zurückliegenden Jahren hat man mehrere Lacebark-Bäume in der jamaikanischen Region Cockpit Forest entdeckt. Diese Bäume sind aktuell aufgrund von Bergbau und Abholzung vom Aussterben bedroht.[14] Die Zukunft der restlichen Bäume dieser Art mag heute ungewiss sein, doch die einst so dynamische Rindenindustrie ist eine ethnobotanische Tradition, die das Leben in Jamaika maßgeblich mitbestimmt hat.
Weiterführende Literatur
Adams, Charles Dennis, 1972. Flowering Plants of Jamaica. Kingston: University of the West Indies Press.
Buckridge, Steeve, 2016. African Lace-Bark in the Caribbean: The Construction of Race, Class and Gender. London: Bloomsbury Press.
Buckridge, Steeve, 2004. The Language of Dress: Resistance and Accommodation in Jamaica, 1760-1890. Kingston: The University of the West Indies Press.
Buckridge, Steeve, 1999. “The Color and Fabric of Jamaican Slave Women’s Dress.” Journal of Caribbean History 33, no. 1 & 2, 84–124.
Brennan, Emily, and Nesbitt, Mark, 2010–11. “Is Jamaican Lace-bark a Sustainable Material?” Text for the Study of Textile Art, Design and History, 38, 17–23.
Pearman, Georgina, and Prendergast, D.V., 2000. “Plant Portraits.” Economic Botany 54, no. 1 (Jan–Mar), 4–6.
Long, Edward, 1774. The History of Jamaica or General Survey of the Ancient and Modern State of the Island: With Reflections on Its Situation Settlements, Inhabitants, Climate, Products, Commerce, Laws and Government. Vol. 3. London: T. Lownudes. Sloane, Sir Hans, 1707–25. A Voyage to the Islands of Madera, Barbados, Nieves, St. Christopher and Jamaica, with the Natural History of the Herbs and Trees, Four-Footed Beast, Fishes, Birds, Insects, Reptiles, Etc. of the Last of Those Islands. 2 vols. London: B. M.
Fußnoten
[1] Inez K. Sibley, “Jamaica’s Wonder Tree”, in: The Jamaican Gleaner, 6. Juni 1968.
[2] Sir Hans Sloane: A Voyage to the Island of Madera, Barbados, Nevis, St. Christopher and Jamaica, with the Natural History of the Herbs and Trees, Four-Footed Beasts, fishes, Birds, Insects, Reptiles, Etc. of the Last of Those Islands. 2 Vol., London: B.M., 1707 – 25, Vol. 1, 131.
[3] Die Kunst der Herstellung von Hängematten wurde den Menschen aus Afrika von den Einheimischen weitergegeben.
[4] Long, The History of Jamaica, 3:858.
[5] C.D. Adams, Flowering Plant of Jamaica (Kingston: The University of the West Indies Press, 1972), 454.
[6] Weitere Namen für den Lacebark-Baum wurden in Interviews mit Maroons in Accompong Town im Juli 2003 und Juli 2014 genannt.
[7] Adams, Flowering Plants of Jamaica, 454.
[8] G.F. Asprey and R.G. Robbins, “The Vegetation of Jamaica”, Ecological Monographs 23, Nr. 4 (Oktober 1953): 384 – 85.
[9] Steeve Buckridge, African Lace-Bark in the Caribbean: The Construction of Race, Class and Gender (London: Bloomsbury Press, 2016), 75 – 78.
[10] Ebd.
[11] Georgina Pearman, “Plant Portraits”, Economic Botany 54, Nr. 1 (Jan – Mar 2000): 4–6; Sloane, A Voyage to the Island of Madera, 2:22 – 23.
[12] Buckridge, African Lace-Bark, 119 – 121.
[13] B. Palliser, A History of Lace, 4. Ausgabe (London: Sampson Low, 1902).
[14] Owen B. Evelyn and Roland Camirand, “Forest Cover and Deforestation in Jamaica: An Analysis of Forest Cover Estimates Over Time”, International Forestry Review 5 (2003): 354 – 63.