
Vom Ackerland zur Schafweide: die schottischen Clearances
Beatrix Hoffmann-Ihde
BCDSS Exhibition Curator
Im Jahr 1824 erwarb die in Edinburgh lebende Christina Stewart Ackerland in der schottischen Ortschaft Movern. Sie wollte dort im großen Stil Schafzucht betreiben. Das bedeutete für die Pachtbauern, die bis dahin auf und von diesem Land gelebt hatten, dass sie es verlassen mussten. Dieses Schicksal teilten sie mit vielen Kleinbäuer:innen der britischen Inseln, die im Zuge der sogenannten Clearances bereits seit dem 15. Jahrhundert immer wieder Vertreibungen erfuhren.
„Eure Schafe […] sollen jetzt […] sogar Menschen verschlingen.“ [i]
Der Wollbedarf der britischen Textilwirtschaft stieg seit dem ausgehenden Mittelalter deutlich an und blieb über Jahrhunderte hinweg sehr hoch. Dies führte in allen Teilen Großbritanniens zu großflächigen Umwandlungen von Ackerland in Weideland, was in der Geschichtsschreibung als Einhegungen bezeichnet wird. Damit ging die Vertreibung der auf und von diesem Land lebenden Kleinbäuer:innen einher – sie waren Pächter:innen der Großgrundbesitzer. Thomas Morus (1478 – 1535) (Abb.1) ging in seiner Schrift „Utopia“ auf diese Praxis ein und kritisierte sie unter Bezugnahme auf die Schafe: „Eure Schafe, […] die gewöhnlich so zahm und genügsam sind, sollen jetzt so gefräßig und wild geworden sein, daß sie sogar Menschen verschlingen sowie Felder, Häuser und Städte verwüsten und entvölkern.“ (Morus 1982 [1516]: 22) (Abb. 2).

Abb. 1: Portrait von Sir Thomas More. Hans Holbein der Jüngere, 1527 (The Frick Collection, New York, 1912.1.77).

Abb. 2: Weidende Schafe in den schottischen Highlands (Foto: B. Ihde 2024).
Während in England die Einhegungen und Clearances bereits im 15. Jahrhundert begannen, setzten sie in Schottland verstärkt erst nach der Vereinigung der britischen Königreiche ein. Dann erst wurden die auf dem Land lebenden Kleinbäuer:innen nicht mehr benötigt, um es gegen die verfeindeten Engländer zu verteidigen. Im schottischen Hochland fanden die Clearances vor allem im 18. und 19. Jahrhundert statt und führten zu extremen sozialen Härten. Denn wo früher eine Großfamilie das Land bewirtschaftete und davon lebte, war nun nur noch ein:e Schäfer:in vonnöten, um die Tiere zu beaufsichtigen.
In Movern beispielsweise, wo Christina Stewart 1824 Land erwarb (Devine 2018: 229), um dort Schafe zu züchten, wurden im Laufe eines Jahrhunderts mehr als 760 Personen, Männer, Frauen und Kinder, von dem Land, das sie bewirtschafteten, vertrieben (Devine 2018: 233). Das waren mehr als 150 Familien. Die aus dem Hochland vertriebenen Kleinbauern sollten sich zum Beispiel an der Küste ansiedeln. Dort fanden tatsächlich manche ein karges Auskommen mit dem Fischfang und der Austernzucht. Andere zogen gleich weiter in die rasch wachsenden Städte, um dort in den neu entstandenen Fabriken zu arbeiten. Deren Arbeitskräftebedarf war stets hoch, jedoch gerieten die ehemaligen Kleinbauern damit erneut in starke asymmetrische Abhängigkeitsbeziehungen. Viele andere wanderten nach Australien oder Nordamerika aus (Abb. 3), um sich eine neue und vor allem von Großgrundbesitzer:innen unabhängige Existenz aufzubauen. Dort setzten sie leider oftmals die ihnen widerfahrene Praxis der Vertreibung selbst fort und eigneten sich indigenes Land an, um es zu bewirtschaften.

Abb. 3: The Emigrants. Denkmal für die Menschen, die im Zuge der Clearances aus ihren Dörfern vertrieben wurden und Schottland für immer verließen. Gerald Laing, 2007, Bronze, Helmsdale, Highland (© the artist’s estate / Bridgeman Images) (Foto: C. Flieger / Art UK, 2019).
Weiterführende Literatur
Devine, T. M. 2018. the Scottish Clearances. A History of the Dispossessed 1600-1900. Penguin Books.
Gaskell, Philip, 1968. Morvern Transformed: a Highland Parish in the Nineteenth Century. Cambridge: Cambridge University Press.
Morus, Thomas, 1982 [1516]. Utopia. Leipzig: Philipp Reclam.
[i] Morus 1982 [1516]: 22.